O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Bauhaus, Farblithographie und Dodekaphonie

1923: MUSIK UND BILDENDE KUNST
(Diverse Künstler)

Besuch am
29. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Museum Folkwang Essen

Vor 100 Jahren war auf der Welt unglaublich viel los. Die Liste an Ereignissen, Geburts- und Todestagen berühmter Personen ist ellenlang. Nur ein paar Beispiele: Im August wird Gustav Stresemann neuer Reichskanzler. Im November folgt ihm Wilhelm Marx. Im selben Monat gibt es den Hitler-Ludendorff-Putsch. Im September errichtet General Miguel Primo de Rivera in Spanien eine Militärdiktatur. Ägypten bekommt eine Verfassung: Der Staat ist nun eine konstitutionelle Monarchie. Der spätere Schah Reza Pahlavi wird zum Premierminister Irans gewählt. Der Flughafen Berlin-Tempelhof darf in Betrieb gehen. Das Grabmal des Pharaos Tutanchamun wird geöffnet. Der deutsche Rundfunk geht am 29. Oktober erstmals auf Sendung. Edwin Hubble beweist, dass es auch jenseits der Milchstraße Himmelskörper gibt. Das Wembley-Stadion in London wird eröffnet. Das erste 24-Stunden-Rennen von Le Mans findet statt. Viele Opern und Operetten, darunter zwei von Franz Lehár, werden uraufgeführt. Und, und, und.

Auf dieses Jahr 1923 hat das Klavier-Festival Ruhr einen seiner Schwerpunkte gelegt. Anlass für den Rückblick ist die Besetzung des Ruhrgebiets am 11. Januar durch französische und belgische Truppen, in dessen Raum und naher Umgebung das Musikereignis stattfindet. Grund für den Einmarsch war der Konflikt um die deutschen Reparationsleistungen. Selbstredend konzentriert sich das Festival auf das kulturelle Geschehen im Laufe dieser zwölf Monate. Einen Thementag mit dem Titel 1923: Musik und bildende Kunst steht in diesem Zusammenhang im Museum Folkwang auf dem Programm, der ein paar Einblicke in die zahllosen kulturellen Ereignisse und Entwicklungen gibt.

El Lissitzky: Sieg über Sonne – Foto © O-Ton

In seinem einführenden Vortag erwähnt anfangs Musikwissenschaftler Tobias Bleek, Honorarprofessor an der Folkwang-Universität der Künste und Leiter des Education-Programms des Klavierfestivals, dass um den Jahreswechsel 1922/23 die Deutschen der Meinung sind, dass alles besser wird. Denn das vergangene Jahr war schon schlimm genug. Doch das Gegenteil war der Fall. Etwa ließ die Hyperinflation die Preise in ungeahnte Höhen schnellen. Was beispielsweise zunächst 40 Mark kostete, war später 200 Milliarden Mark wert. Dann widmet er sich in Ausschnitten der Kunst dieses Jahres, führt das umfassende Sammelwerk Ecce Homo von George Grosz an. Musikalisch sei viel entstanden. Etwa ändert sich der Kompositionsstil Igor Strawinskys nach seiner frühen russischen Periode hin zum Neoklassizismus. Ballette wie in Paris waren modern. Explizit geht er auf die 1929 gegründete Kunstschule Bauhaus ein, die nun ihre erste Ausstellung präsentiert, wovon bis heute das „Musterhaus“ übriggeblieben ist. Die Festwoche war von viel Musik begleitet. Eigens zu dem Anlass reisten die Komponisten Ferruccio Busoni mit seinem Schüler Kurt Weill oder Igor Strawinsky an. Er stellt den Gründer Walter Gropius und seine Devise vor: „Der Künstler ist die Steigerung des Handwerks“. Als weiteren bedeutenden Vertreter erwähnt er Lyonel Feininger, den Leiter der druckgraphischen Werkstatt. Auch Paul Klees musikalische Interessen und seine Vorliebe für Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier lässt er nicht außer Acht. „Meine Bilder nähern sich immer mehr der Synthese der Fuge“ soll der bildende Künstler konstatiert haben. Er versuchte unter anderem, musikalische Formen ins Malerische zu übertragen. Arnold Schönberg kommt auch nicht zu kurz. Sein erstes zwölftöniges Stück, den Walzer aus Opus 23, brachte er in diesem Jahr heraus. Pianistin Yaara Tal macht die Walzerstruktur deutlich und spielt ihn anschließend sehr verständlich.

Anschließend geht es vom Vortragssaal ins Museum zur bildenden Kunst. Die zahlreichen Gäste werden in acht Gruppen aufgeteilt, die durch eine der vier Ausstellungen geführt werden. Eine davon geht in den Lesesaal, wo vier Kleinode auf Stativen positioniert sind, die normalerweise nicht besichtigt werden können. Sie sind eigens für den Nachmittag aus dem Archiv gekommen und verschwinden auch danach sofort wieder dorthin. Denn sie würden unter andauerndem Lichteinfluss Schaden nehmen und müssen demnach davor geschützt werden. Dabei handelt es sich um Lithographie. Eine Grafik mit dem Titel Sieg über Sonne schuf der russische Avantgardist El Lissitzky. Zwei mit dem Namen Kleine Welten stammen von Wassily Kandinsky. Der Seiltänzer heißt ein Werk von Paul Klee. Und eine der Straßenszenen von George Grosz ist zu sehen.

Yaara Tal – Foto © Peter Wieler

Das abschließende Konzert von Yaara Tal bietet einen kleinen Querschnitt über die musikalische Vielfalt mit Werken bekannter und in Vergessenheit geratener Komponisten dieses Jahres. Die Three Preludes von Frederick Delius sind ein Beispiel dafür, dass der britische Komponist ganz in der Tradition des Impressionismus geschrieben hat. Inspiriert von jüdisch-liturgischer Musik ist Ernest Blochs Nirvana, das entrückte Klänge beinhaltet. Josef Matthias Hauer kommt selbstverständlich nicht zu kurz. Er brachte unabhängig von Schöneberg seine eigene Zwölf-Ton-Technik ans Licht der Öffentlichkeit. Sie setzte sich nur nicht durch. Die vorgestellten acht Klavierstücke aus seinem Opus 25 nach Worten Friedrich Hölderlins lassen jedoch gewahr werden, dass sich eine intensive Auseinandersetzung mit seiner Kompositionsweise lohnen könnte. Hanns Eislers zweite Klaviersonate geht über die Dodekaphonie seines Lehrers Schönbergs hinaus, indem er damit ihm zum Trotz seine strengen musikalischen Formen auf die Schippe nimmt. Drei kleine Stücke aus Leoš Janáčeks Intime Skizzen sind mit dabei. Unterhaltsam geht es bei Quatre Danses Miniatures des polnisch-französischen Alexandre Tansman zu. Und tänzerisch mit Jazzeinflüssen kommen drei Stücke von Émile Jaques-Dalcroze aus der Schweiz, dem Begründer der rhythmisch-musikalischen Früherziehung, daher. Zwischendurch setzt sich ihr Duopartner Andreas Groethuysen neben sie an den Flügel, um Fritz Heinrich Kleins vierhändiges Klavierwerk Opus 1 mit dem Titel Die Maschine vorzustellen, das nur so von Selbstsatire und Schalk im Nacken sprüht.

Das rund 80-minütige Programm führt Tal nicht nur musikalisch und pianistisch erstklassig auf, sondern stellt die Komponisten und Werke sachkundig und unterhaltsam vor. Verdiente, langanhaltende Ovationen sind der Dank. Dafür bedankt sie sich mit einer schönen kleinen Zugabe aus dem Jahr 1922: Der kleine weiße Engel – Originaltitel: Le petit âne blanc – aus der Feder von Jacques Ibert. Er schrieb es für Kinder, die Klavier spielen lernen.

Der lange, dennoch kurzweilige Nachmittag kann zwar nur kleine Einblicke qua der enormen Vielfalt in das Jahr 1923 geben. Die werden aber derart leicht zugänglich vermittelt, dass sich wohl viele Teilnehmer davon inspirieren lassen, sich ausführlicher mit dieser Zeit zu beschäftigen.

Hartmut Sassenhausen