O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © André Symann

Aktuelle Aufführungen

Ausatmende Zufriedenheit

SCHUBERTS WINTERREISE
(Hans Zender)

Besuch am
19. Januar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Mercatorhalle, Duisburg

Es gibt Ereignisse, die mit ihrer Gleichzeitigkeit irritierend und beglückend zugleich sein können. Ihnen sind magisch prophetische Momente eigen. Eine solche Duplizität von Ereignissen ist aktuell im Fokus von Schuberts Winterreise, Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester von Hans Zender erfahrbar.

Parallel zur Aufführung der Duisburger Philharmoniker unter der Leitung von Axel Kober im 6.Philharmonischen Konzert mit dem Tenor Klaus Florian Vogt in der Philharmonie Mercatorhalle Duisburg ist zeitgleich in der Mediathek des Fernsehsenders Arte eine Aufführung mit der Philharmonia Zürich (unter der musikalischen Leitung von Sebastian Schneider in einer von Christian Spuck mit dem Ballett Zürich choreografierten Inszenierung zu erleben.

Es macht nicht nur einen Unterschied aus, dass bei der Zürcher Aufführung online die Choreografie dominant ins Bild gesetzt wird, während demgegenüber die Duisburger Zenders Komposition in konzertant klassischer Form präsentieren. Einen entscheidenden Kontrast machen vor allem die Wahrnehmungsebenen von Klang und Bewegung online und live hör- und sichtbar. Dass die komponierte Interpretation von Zender einen Tenor als Interpreten der mit Franz Schuberts Urfassung kongenialen Liedtexten von Wilhelm Müller verlangt, in Zürich die Stimmlage mit dem Bariton Mauro Peter besetzt ist, bietet eine höchst interessante Duplizitäts-Resonanz.

Mit den Eindrücken der am Vorabend aus der Mediathek abgerufenen Zürcher Aufführung entsprechend eingestimmt, beweist sich aufgrund des unmittelbaren Vergleichs mit dem Konzert in der Mercatorhalle die ingeniöse Authentizität des Live-Konzerts. In Zeiten des pandemisch gebotenen Social Distancing, wo Konzerte sowie Opern- und Theateraufführungen überwiegend im Netz ihre Angebote zu präsentieren genötigt sind, ist die durch nichts zu steigernde Wirkmächtigkeit eines Konzerterlebnisses, zusammen mit anderen in einem Raum zu staunen, zu atmen und von der Musik berührt zu werden, an diesem Konzertabend mit allen Sinnen spürbar.

In der komponierten Interpretation von Franz Schuberts inzwischen legendärem Liederzyklus Die Winterreise reflektiert Zender ein Wanderungsmotiv des Lebens mit seinen Höhen und Tiefen nicht nur musikalisch feinsinnig. In die Partitur eingeschrieben sind auch choreografierte Bewegungen einzelner Instrumentalisten. Zender spürt dem Schubert-Kosmos nach, wie Schubert seine er- und gelebte Realität der restaurativen und repressiven Metternich-Diktatur im Kontext der aufkommenden Romantik poetisch antizipiert. Das Irdische, polarisiert zwischen Wirklichkeit und Traum, verwandelt er funktional in Seele und Geist.

Foto © André Symann

Kober findet für diesen optimistischen Wandergedanken eine überzeugende spielerische Abstimmung. Klarinette und Oboe kommen aus dem Foyer in den Saal, während das Orchester schon mit Schuberts kongenialen, von Zender orchestrierten, sparsamen frei erfundenen Vorspielen zum ersten Lied Gute Nacht eine erste motivische Spur formt. Pianissimo schleift und schrammt die Pauke, Streichersaiten flirren, das Xylofon räsoniert, die Gitarre tönt hintergründig zaghaft. Die schreitenden Holzbläser betonen die Melodie. Vogt beginnt seine lyrisch gestimmte, klangfarbige Akzente zwischen Melancholie, Trauer und dramatischer Furor setzende Tenor-Wanderschaft durch die Lieder.

Nacht, Traum, Einsamkeit, Stille, Sehnsucht, Tod, gespiegelt in den ätherischen Elementen des Universums Feuer, Wasser, Erde und Luft bilden die Topoi des Liederzyklus Die Winterreise. Kober und Vogt haben sich für die vokale und orchestrale Interpretation zu besonderen Betonungen verabredet. Im Auftakt des Zyklus  Gute Nacht greift Vogt in der letzten Strophe Sollst meinen Tritt nicht hören zum Mikrofon. Elektronisch überblendet, kontrastiert Vogts Parlando laut tönend den hintergründigen Sinn des Textes.

Mit der darüber im Saal zu spürenden Irritation stellt sich unvermittelt eine die Musikgeschichte beschäftigende Frage: Schubert in seiner Zeit, wer ist das? Zender findet mit Kober eine Antwort, die in Schubert einen Komponisten entdeckt, dem es gelingt, den gesellschaftlichen Druck mit künstlerischen Mitteln immer wieder zu umgehen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Seine unmittelbar erlebte Alltagswelt zu poetisieren, indem er sie klangmusikalisch mit Lyrismen verschleiert.

Zenders Winterreise-Interpretation imaginiert neben weiteren mikrofonalen Vogt-Kober-Tönungen in Der stürmische Morgen tänzerisch wandernde Bild- und differenziert choreografierte Orchesterformate. Beginnend mit dem neunten Lied Irrlicht, reduziert sich das Orchester in den folgenden Liedern zehn bis zwölf durch Abgänge von Blech, Holz sowie einzelnen Streichern auf kammermusikalische Größe. Harfe und Akkordeon malen Irrlicht-Motive, abgelöst von einem klangfarbigen Xylofon Nun merk‘ ich erst wie müd‘ ich bin (Rast) bis zur auf Klangholzflächen klopfenden Einsamkeit (Wie eine trübe Wolke).

Vogts Kantilenen strahlen klangschön in Form von Ruf und Echo mit dem Orchester: Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz (Die Post). In seinem Gesang entfaltet sich ein Schönheitsideal, das Schuberts Zeitgenosse, der Dichter Franz Grillparzer, als eine vegetativ wuchernde Kunst des Komponisten begeistert. Wehmut und Heimatlosigkeit interpretiert Vogt in einer Haltung, die ihn selbst anzurühren scheint, ihn zu klanggewordenem Ausdruck mitreißt. Eben noch sich frühlingsträumend hingegeben – und denke dem Traume nach – meint man in Der greise Kopf etwas von Schuberts Todesahnung herauszuhören.

Nach den kammermusikalischen Intermezzi lautmalen Streicher-Pizzicati und sanft artikulierende Gitarre in Täuschung oder modulierende Klarinette und Xylofon in Letzte Hoffnung sowie elegische Harfe in Die Nebensonnen in orchestralen Klangbildern. Im abschließenden Lied Der Leiermann ist eine bedrückende Ausweglosigkeit zu spüren. Über einem von der Bassposaune gestimmten Bordun-Klang signiert das Sopran-Saxofon ein fahles Todeslicht: Wunderlicher Alter, soll ich mit Dir geh’n?

Eine tief anrührende, fernab falscher Sentimentalität, klanglich korrespondierende Schubert-Zender-Winterreise, von Kober mit seinem Orchester und dem Tenor Vogt nehmen die Zuhörer für ein selten so gedankentief ausgelotetes, empathisch ausbalanciertes Konzert ein, dass mit ausatmender Zufriedenheit bejubelt wird. Auf dem Podium von den Musikern selbst und dem Publikum gleichermaßen.

Peter E. Rytz