O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Von ironischen Amouren bis zur „salzigen Gebärmutter“

LOST AND FOUND
(Diverse Choreografen)

Besuch am
19. Juni 2021
(Premiere)

 

Deusche Oper am Rhein, Theater Duisburg

Acht Monate musste sich Demis Volpi gedulden, bis er sich jetzt als neuer Direktor und Chef-Choreograf des Balletts am Rhein mit einem abendfüllenden Programm seinem Publikum vorstellen kann. Und das gleich in kurzen Abständen in beiden Häusern der Deutschen Oper am Rhein, in Duisburg und Düsseldorf. Obwohl Volpi und seine Compagnie nicht untätig gewesen sind, waren die Umstände, unter denen er als Nachfolger von Martin Schläpfer in sehr große Fußstapfen treten musste, unglücklich. Auch wenn Volpi, der vor allem dem Stuttgarter Ballett als Tänzer und Choreograf eng verbunden war, trotz seiner jungen Jahre auf große internationale Erfolge zurückblicken kann.

Lost and Found nennt Volpi in Anspielung auf die pandemische Krise sein erstes Programm. „Verloren und wiedergefunden“: Volpi nutzte die Zeit, mit seinem Ballett neue Ideen zu kreieren, aber auch auf Stücke zurückzublicken, die es verdienen, noch einmal gezeigt zu werden. So entstand ein sechsteiliges, stilistisch buntscheckiges Programm, zusammengesetzt aus Choreografien blutjunger Nachwuchskräfte wie der 20-jährigen Israelin Neshama Nashman und Tanz-Legenden wie Hans van Manen, der im nächsten Jahr seinen 90. Geburtstag feiern wird.

Besondere Beachtung verdienen die beiden Beiträge von Demis Volpi, auch wenn die für einen umfassenden Eindruck nicht ausreichen. Zumal A Simple Piece zu Beginn der Pandemie schon digital gezeigt wurde. Damals aber mit Videoprojektionen eindrucksvoller Details, worauf man im Live-Theater verzichtet. Gedacht war das halbstündige Werk als Versuch, sich mit der Compagnie vertraut zu machen. Dazu bewegt sich das Ensemble im Gleichschritt, auf größere Soli wird verzichtet. In der Totalen erinnern die Übungen der acht in grobe Kostüme gekleideten Tänzer eher an eine ausgedehnte Aufwärmphase. Mit unzähligen Bewegungselementen, die sich jedoch, trotz der faszinierenden Chormusik von Carolin Shaw, nie zu tänzerischen Sequenzen entwickeln. Eine Art Intro zu einem Stück, das Volpi noch schuldig geblieben ist.

Die kleine Solo-Szene Allure, die Volpi bereits für das Stuttgarter Ballett kreierte, bietet da allenfalls ein Appetithäppchen. Gleichwohl: Doris Becker zelebriert zur jazzigen Musik von Nina Simone einen expressiven Monolog von bestrickender Intensität.

Foto © Bernhard Weis

Ironischer geht es im Pas de Deux Love Song von Andrey Kaydanovskiy zu einem amourösen Chanson von Jacques Brel zu. Das erotische Date führen Feline van Dijken und Eric White nach einigen Kontaktstörungen zu einem lustvollen Höhepunkt.

Dann zwei Arbeiten zur Musik von Johann Sebastian Bach. Zunächst ein ergreifendes Männer-Solo von Julio Morel zur Arie Erbarme dich aus der Matthäus-Passion. Die junge Choreografin Neshama Nashman, selbst noch Mitglied des Tanzensembles, hat Volpi mit einer Arbeit für das Tanzhaus Düsseldorf so beeindruckt, dass er das Stück in sein Programm aufnahm. Eine ungewöhnlich beeindruckende, ebenso kraftvolle wie empathische Seelenstudie eines leidenden, aber keineswegs wehleidigen Menschen. Und zugleich eine Talentprobe eines außergewöhnlichen Talents.

Hans van Manen, die Tanz-Legende, die dem Rheinopern-Ballett seit 50 Jahren verbunden ist, glänzt mit seinem unverwüstlichen, mittlerweile 24 Jahren alten, aber immer noch taufrischen Solo zu zwei extrem virtuosen Sätzen aus Bachs Partita für Solo-Violine BWV 1002. Musik, die nach Ansicht von van Manen unmöglich von einer Person allein getanzt werden kann. Und so wechseln sich gleich drei Tänzer im irrwitzigen Husarenritt über die Bühne in harmonischer Eintracht ab.

Brutal endet der Abend mit einer bruitistischen Arbeit, die barbarische Urzeiten heraufzubeschwören scheint. Der harsche Titel: Salt Womb – salzige Gebärmutter. Das klingt nach urweltlichen Geburtswehen in Anlehnung an Strawinskys Sacre du Printemps. Sharon Eyal und Gai Behar arbeiten mit dem schwarz gekleideten Ensemble zu explosiven Perkussionsschlägen des Komponisten Ori Lichtik ähnlich wie Demis Volpi in A simple Piece. Allerdings mit gnadenloser Konsequenz alles um drei Grade schroffer, kraftvoller und unerbittlicher. Eine gewaltige Kraftprobe für das Ensemble, das das Ende der pandemischen Zwangspause mit beachtlicher Präzision und Kondition einläutet.

Das Publikum reagiert erleichtert und begeistert auf den ersten Live-Auftritt des Balletts nach acht Monaten. Was die Einschätzung von Demis Volpis Stärken angeht, muss man allerdings noch auf weitere Talentproben warten.

Pedro Obiera