O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Heinrich Brinkmöller-Becker

Aktuelle Aufführungen

Visualisierte Klänge

DIE ERDFABRIK
(Georges Aperghis)

Besuch am
11. August 2023
(Uraufführung)

 

Ruhrtriennale, Gebläsehalle, Landschaftspark Duisburg

Diejenigen, die neugierig auf experimentelles Musiktheater sind, dürfen sich in der Gebläsehalle im Lanfschaftspark Duisburg Nord aufgehoben fühlen. Denn dort wird Neues präsentiert, das mit tradierten Hör- und Sehgewohnheiten wenig zu tun hat. Es geht um ein Auftragswerk der Ruhrtriennale, das aus der Taufe gehoben wird und über rund 75 Minuten Geist und Sinne der Besucher stark in Anspruch nimmt. Die Erdfabrik heißt das Opus, das der für die Regie zuständige Komponist Georges Aperghis und der Schriftsteller Jean-Christophe Bailly auf das Ruhrgebiet maßgeschneidert haben. Den Bergbau haben sie thematisiert. Er wird jedoch nicht real, sondern nur angedeutet verwirklicht. Vieles bleibt beliebig, wird der Fantasie und Vorstellungskraft des Publikums anheimgestellt.

Die von Nina Bonardi entworfene Bühne ist traditionell strukturiert. Dort befinden sich wie gewohnt die Musiker und hinter ihnen ein großer und zwei kleine Monitore. Solch ein ähnlicher Aufbau ist etwa von Steve Reichs Video-Oper Three Tales aus dem Jahr 2002 bekannt. Nur wird man hier nicht mit Handlungen und zugänglicher Musik konfrontiert. Vielmehr sind die visuellen Elemente von abstrakter Natur und die Töne über weite Strecken geräuschhaft-komplex mit dazu im Kontrast stehenden beziehungsweise korrespondierenden Klangeinwürfen. Von einer Video-Oper kann also keine Rede sein. Die Formulierung klangliche Kammermusik einhergehend mit grafischen Animationen könnte eher zutreffen.

Foto © Heinrich Brinkmöller-Becker

Auf den Monitoren entwickeln sich allmählich aus Strichen schroffe Gebilde, die wie angedeutete Steinkohlebrocken aussehen. Oder es entstehen Schächte und Stollen. Fabelwesen flanieren schattenhaft. Eine unwirkliche Reise ins tiefschwarze Dunkel des Erdinneren mit all seinen Geräuschen, Absonderlichkeiten, Begegnungen wird so zum Ausdruck gebracht. Zu guter Letzt geht es ins gleißende Licht. In Zeitlupe werden schließlich die skizzenhaften Industriearchitekturen von Wurzeln überwuchert, als eroberte die Natur ihr vom Menschen geraubtes und zerstörtes Land wieder zurück. Alles ist dunkel, schwarz, in Grautönen gehalten. Schummrig ist auch die Bühne. Die wenigen kleinen Spots dienen als Sehhilfe für die Musiker und gemahnen mit ihrem schwachen gelb-roten Licht an alte Grubenlampen.

Das Libretto besteht aus drei Gedichten: Annette von Droste-Hülshoffs Die Erzstufe sowie Baillys Blindekuh und Insomnia. Sie werden zwischendurch im Original auf Deutsch von den Musikern deutlich rezitiert. Die englischen Übertitel sind wohl ein Bonbon für die ausländischen Gäste. Auch diese Texte haben mit dem realen Geschehen und Treiben der hart arbeitenden Kumpel unter Tage wenig zu tun. Während die Dichterin ein heraufziehendes Unwetter mit Bergbau-Klischees in Zusammenhang bringt, heißt es etwa bei Bailly: „Es gibt eine äußere Nacht, doch es gibt auch eine andere Nacht/eine Nacht, die im Innerern aufzieht, die wir in unseren Träumen sehen …“. In einer Strophe wird er etwas konkreter: „Weder vertraute Gesichter/noch Wände/der Schacht vollkommener Nacht/vollkommen von sich selbst umhüllt/– wo sind wir?“.

Foto © Heinrich Brinkmöller-Becker

In seiner Komposition hat Aperghis die drei Originale zerpflückt in bewusst unverständliche Brocken, Silben, Vokale und Konsonanten. Hauptsächlich im hohen Register intoniert Sopranistin Donatienne Michel-Dansac gekonnt unverkrampft vom kontemplativen Pianissimo bis hin zum schrill-markerschütternden Fortissimo. Nicht nur sie, auch die beiden Perkussionisten Christian Dierstein und Dirk Rothbrust, Trompeter Marco Blaauw und Kontrabassistin Sophie Lücke sind ausgewiesene, renommierte Musiker in Sachen zeitgenössischer Musik. So bringen auch die vier Instrumentalisten die vertrackte Partitur äußerst differenziert zu Gehör. Mit dieser Tonschöpfung zeigt sich der Komponist sehr experimentierfreudig, indem er etwa Trompete und Kontrabass Klänge und Geräusche entlocken lässt, die vordergründig mit diesen Instrumenten nichts zu tun haben. Und die beiden raumfüllenden Perkussionsbereiche bieten eine Vielzahl an tradierten, exotischen uns alltäglichen Schlaggegenständen, die rhythmisch, strukturell klangfarben- wie geräuschreich sehr komplex verwendet werden. Kleine Tonfragmente gehen Hand in Hand mit rhythmischen, vielschichtigen Geräuschen, die streckenweise im Kontrast zu den sich verändernden projizierten Schraffierungen stehen. Die vielschichtige Klangsprache lässt aufhorchen und macht Lust auf mehr davon. Doch birgt sie im gesamten Verlauf auch Längen, da sich Passagen nur leicht variiert zu oft wiederholen. Zu plakativ sind außerdem das Kettengerassel sowie das Hämmern auf Bleche, Stahlplatten und Amboss. Diese Passage wirkt wie ein Zugeständnis an diejenigen, die sich einen Bezug zum realen Leben eines Malochers in einem Stahlwerk wünschen.

Wer eine konkrete künstlerische Auseinandersetzung mit dem Bergbau im Ruhrgebiet für nicht wesentlich erachtet, stattdessen aufgeschlossen gegenüber neuen surrealen klanglichen und visuellen Formen ist und dazu bereit ist, seine Fantasien spielen zu lassen, um in individuelle Welten einzutauchen, kann sich bei der Auseinandersetzung mit Der Erdfabrik aufgehoben fühlen.

Der Premierenapplaus im fast ausverkauften Auditorium ist langanhaltend und richtet sich gleichermaßen an alle an der Produktion beteiligten Personen. Die wenigen Jubelrufe aus dem hinteren Publikumsbereich ähneln solchen aus den Kehlen von Claqueuren.

Hartmut Sassenhausen