O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Selbstmord ist notwendig

ZWEIG UND ESELIN
(Bojan Vuletić)

Besuch am
29. Oktober 2021
(Generalprobe)

 

Tonhalle, Mendelssohn-Saal, Düsseldorf

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Das ist für viele Menschen offenbar ein Grund zum Feiern. Mehr als 1900 Veranstalter haben sich das Etikett auf ihre Plakate geklebt. Das ist bestimmt politisch korrekt. Mindestens ebenso viele Menschen finden, dass das überhaupt kein Grund ist, große Freude zu äußern. In diese Zeit fällt die Massenvernichtung jüdischen Lebens durch deutsche Mitbürger. Noch heute müssen Synagogen polizeilich bewacht werden, in Berlin geht man nur mit äußerstem Unbehagen mit einer Kippa auf dem Kopf spazieren. Im Netz tobt der Antisemitismus. Da ist für Feierlichkeiten wirklich nicht viel Platz. Selbst in den Schulen wird bis heute nicht um ein friedliches Miteinander gerungen, sondern werden weiter Unterschiede gelehrt. Glücklicherweise sieht es im Alltagsleben vieler Menschen besser aus. Da gibt es in der Nachbarschaft Muslime, Juden und Christen, die freundlich miteinander umgehen oder gar freundschaftlich verbunden sind. Und natürlich ist auch die Idee gut, darauf hinzuweisen, dass die jüdische Kultur längst ihren festen Platz in Deutschland gefunden hat. Viele der Veranstaltungen setzen sich überdies damit auseinander, wie immer noch vorhandene Ressentiments aufgelöst werden können.

Hanna Werth begeistert als Eselin – Foto © O-Ton

Der Düsseldorfer Komponist Bojan Vuletić wurde von der Tonhalle beauftragt, ein Werk zum Thema 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu erstellen. Er will Juden- und Christentum aufeinanderprallen lassen. Als er den israelischen Autor Shlomo Moskovitz, der in Berlin lebt, kennenlernt, beschließen die beiden, sich auf eine Meta-Ebene zurückzuziehen. Und so trifft der jüdische Schriftsteller Stefan Zweig, der es in der Welt mit Romanen wie Schachnovelle oder Sternstunden der Menschheit zu hohem Ansehen gebracht hat, ehe er sich 1942 gemeinsam mit seiner Ehefrau in Brasilien das Leben nahm, auf die Eselin aus dem vierten Buch Mose, die angesichts einer Konfliktsituation zu sprechen beginnt. Welchem Genre das Werk, das aus dieser Idee entstanden ist, dereinst zuzuordnen ist, müssen andere entscheiden. Jedenfalls entsteht ein Dialog zwischen Zweig und Eselin, der von Sängern kommentiert und vom Orchester musikalisch untermalt wird. Während Moskovitz so die Möglichkeit bekommt, sich von der Sinnhaftigkeit des Freitods bis zum Unsinn des Nationalstaats zu argumentieren, kann Vuletić das musikalisch untermalen, betonen, dramatisieren, aber auch vorantreiben. Und Spannungsmomente gibt es ausreichend, um den Hörer über fast anderthalb Stunden zu fesseln.

Dass eine Generalprobe am Tag der Uraufführung selbst stattfindet, ist für Vuletić nicht ungewöhnlich. Als einer der beiden Künstlerischen Leiter des Asphalt-Festivals, dem er alljährlich ein neues Stück zuliefert, ist er Zeitnot gewöhnt. Und deshalb muss eine Generalprobe für ihn auch nicht eine Vorab-Aufführung sein. So auch an diesem Vormittag. Die Sänger werden nicht voll aussingen, die Geiger ihr Potenzial zurücknehmen. Dass kann er sich deshalb leisten, weil er auf eine ihm verbundene Mannschaft bauen kann. Am Pult steht die Sängerin, Komponistin und Dirigentin Cymin Samawatie, der es inzwischen schon gut gelingt, die Balance zwischen den einzelnen Gruppen herzustellen und auf die punktgenauen Einsätze der anspruchsvollen Partitur zu achten. Dabei klammert sie sich nicht an das Notenpapier, sondern hört auch sehr genau auf die Musiker und Sänger, die ihr im vertrauensvollen Verhältnis sehr genau mitteilen, an welchen Stellen sie sich unwohl fühlen. Schnell und unproblematisch werden da Lösungen gefunden.

Bojan Vuletić bei der letzten Manöverkritik – Foto © O-Ton

Den Dialog führen die Schauspieler Philipp Alfons Heitmann als Zweig und Hanna Werth als Eselin, beides charismatische Persönlichkeiten, die mit den Texten souverän umzugehen wissen. Da findet man nicht immer Wort für Wort alles in den Übertiteln wieder, aber der Sinn stimmt. Und das ist eigentlich die geistig wesentlich höherstehende Leistung. Vom Dialog selbst soll hier noch nicht so viel verraten werden. Da werden die Besucher der Uraufführung ganz von selbst hellhörig werden, wenn Moskovitz über die Nationalstaaten philosophiert. Den Schauspielern steht ein Chor aus Solisten beiseite. Sopranistin Marie-Audrey Schatz wird erst am Abend ihre volle Leistung bringen, klingt aber schon jetzt grandios. Altistin Aurélie Franck rundet die Mittellage ganz wunderbar ab. Und Martin Wistinghausen bietet einen Bass, der mehr als einmal aufhorchen lässt. Dass alle drei zweisprachig, nämlich deutsch und hebräisch, singen, nötigt Respekt ab. Wie es sich für einen Israeli anhört, ist nicht verbürgt, für deutsche Ohren jedenfalls klingt das Hebräische sehr überzeugend.

Auch im Orchester baut Vuletić auf Musiker, die man allmählich schon kennt. Alina Bercu am Klavier oder Egor Grechishnikov an der Violine, um nur zwei Beispiele zu nennen, möchte man am liebsten schon zuwinken, weil man sich über das Wiedersehen freut und weiß, dass damit eine außerordentliche Qualität sichergestellt ist. Vom Komponisten gewohnt ist man inzwischen die Zusammensetzung aus konservativen Bestandteilen bei Streichern und Bläsern, die etwa um Vibrafon, Gran Kassa, Akkordeon oder Saxofon erweitert werden. Ständig wechselnde Spannungsbögen funktionieren auch diesmal wieder wie ungewöhnliche Klänge, die man so noch nicht gehört hat.

Am Ende des Durchlaufs ist zurecht Zufriedenheit und Entspannung angesagt. Eine letzte Manöverkritik zeigt, dass es jetzt nur noch darum geht, Haare zu spalten. Freundlich werden letzte Anmerkungen von Seiten des Komponisten entgegengenommen, ehe die Musiker sich noch für ein paar Stunden zurückziehen.

Der gesamte Diskurs wird am Freitod des Schriftstellers nichts ändern, aber möglicherweise in den Köpfen der Besucher, die an der Uraufführung teilnehmen. Und das wäre ja nicht das Schlechteste.

Michael S. Zerban