Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
WINTERREISE
(Franz Schubert)
Besuch am
1. November 2020
(Einmalige Aufführung)
Es kommt einem so ein bisschen vor wie der „letzte Gang“. Trübe Wolken hängen über dem Düsseldorfer Ortsteil Holthausen, warm ist es, echtes Schmuddelwetter also. Die Energie ist verlorengegangen. In den vergangenen Wochen war diese Nervosität zu spüren, überall wurde in den Theatern, die noch überlebt haben, gespielt, was das Zeug hielt. Man konnte die Hitze fast sehen bei diesem Tanz auf dem Vulkan. Ständig erschwerte Auflagen seitens der Gesundheits- und Ordnungsämter mussten bewältigt werden, aber keine Hürde schien zu hoch zu hängen – bis auf die Fälle, in denen Konzerte am Tag der Aufführung abgesagt wurden, aber die scheinen Ausnahmen geblieben zu sein. Am vergangenen Mittwoch verkündete die Regierung nach einem rechtlich wieder mal höchst umstrittenen Entscheidungsprozess einen erneuten Shutdown. Ungeachtet aller Fragen der Verhältnismäßigkeit ist in den darauffolgenden Tagen so etwas wie ein letztes Wettrennen eingetreten. Aufführungen wurden vorgezogen wie bei der Oper Leipzig, Zusatzkonzerte angeboten. Nein, an die vier Wochen Auftrittsverbot glaubt nach den vergangenen Erfahrungen niemand mehr. Damit werden den Theatern, also den Freizeiteinrichtungen, wie die Regierung über die Kultur spottet, die wichtigsten Einnahmen des Jahres entgehen. Ein Schaden, willkürlich herbeigeführt, der vermutlich in Jahren nicht aufgeholt werden kann.
Rolf A. Scheider – Foto © O-Ton
An diesem Sonntagnachmittag, es ist Allerheiligen, tritt so etwas wie eine kurzfristige Entspannung ein. Oder Erschöpfung? Egal. Sekundenlang hatte es die Überlegung gegeben, die hier geplante Aufführung zugunsten „wichtigerer“ Veranstaltungen wie etwas das schnell angesetzte Benefizkonzert der Kölner Philharmonie für die Kölner Freie Szene abzublasen. Aber dieses Konzert war seit Wochen geplant, wird von Einzelkünstlern durchgeführt, die jetzt wieder ein Auftrittsverbot auferlegt bekommen haben, und sich die Agenda noch weiter von der Regierung diktieren zu lassen, verursacht nur weiteres Unbehagen. Also bleibt es dabei, in den Stadtteil zu fahren, der lange vom nahegelegenen Waschmittelkonzern profitierte, inzwischen aber mehr einen Dornröschen-Schlaf begonnen zu haben scheint. Adolf Clarenbach war einer der ersten evangelischen Märtyrer am Niederrhein. Er wurde aufgrund seines Wirkens im 16. Jahrhundert in Köln auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Nach ihm wurde die Klarenbachkirche in Holthausen benannt. Nach nur einjähriger Bauzeit wurde sie am 2. Oktober 1955 eingeweiht. Bis heute ist der separate Glockenturm ein Blickfang am Kamper Acker an der Bonner Straße. Die Kirche selbst wirkt ein wenig heruntergekommen, und so ist ihr Schicksal nach der Eingemeindung der Evangelischen Klarenbach-Kirchengemeinde in die Kirchengemeinde Düsseldorf-Süd absehbar. Vorerst aber kann man den „abgewohnten“ Charme der Kirche noch genießen. Und ganz offenbar mögen die Gemeindemitglieder ihre kleine Kirche. Denn die ist an diesem Nachmittag ausverkauft. Kantor Markus Maczewski hat Rolf A. Scheider und Thomas Hinz eingeladen, die Winterreise aufzuführen.
Maczewski ist seit Tagen, wenn nicht Wochen damit beschäftigt, das kleine Konzert zu organisieren. Jenseits seiner eigentlichen Aufgaben hat er mit seinem Team ein Sicherheitskonzept entwickelt, das man nicht anders als vorbildlich nennen kann. Obwohl seine Helferinnen ein wenig Nervosität ausstrahlen, die darin begründet ist, nur ja alles richtig zu machen, wirkt der Kantor ganz entspannt, begrüßt einzelne Gemeindemitglieder persönlich und hält vor dem Konzert eine wunderbare Einführungsrede, in der er auf die Sicherheitsvorkehrungen hinweist, auf die plötzlich so sinnhafte Wahl des Themas ob seines ungewissen Ausgangs zu sprechen kommt und die Künstler ankündigt. Großartig. Das hat man in den vergangenen Wochen angestrengter erlebt.
Da können die Besucher sich schon mal entspannt in den gepolsterten Kirchenbänken zurücklehnen. Die Bühne ist denkbar einfach gestaltet. Vor dem Altarraum ist ein mittelgroßer Stutzflügel von Steinway & Sons aufgebaut. Nicola Glück, Frau von Scheider und Regisseurin, hat es sich nicht nehmen lassen, mit ein paar zusätzlichen Lichtquellen für ein wenig mehr Spannung zu sorgen. Dann treten Scheider und Hinz auf.
Thomas Hinz – Foto © O-Ton
Die beiden haben sich vor rund 20 Jahren bei einem Benefiz-Konzert kennengelernt. Seither verbindet sie nicht nur eine künstlerische Arbeitsgemeinschaft. Thomas Hinz hat an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf studiert, sich danach einen Namen als Liedbegleiter und Kammermusiker gemacht und hat seit knapp einem Jahrzehnt einen Lehrauftrag für vokale Korrepetition an der Musikhochschule Rostock. Damit treffen sich hier zwei Künstler auf absolut hohem Niveau.
Für Bass-Baritone ist die Winterreise, „ein Cyclus von Liedern von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte komponiert von Franz Schubert. Op. 89“, so etwas wie Pflicht- oder Traumprogramm. Wer das als Sänger des tiefen Fachs nicht einmal in seinem Leben verwirklicht hat, wird in seinem Beruf nicht glücklich, so scheint es. Dementsprechend viele Aufnahmen berühmt gewordener Sänger – und Sängerinnen – gibt es. Und trotzdem lohnt sich immer wieder eine Aufführung. Denn alle Schallplattenaufnahmen kommen nicht gegen eine Live-Aufführung an. Hier allerdings zeigen sich dann die Unterschiede. Da gibt es die, die von ihrem Lehrer zu früh auf das Thema gehetzt werden, die Hobby-Sänger, die die Winterreise einmal im Leben gesungen haben wollen, die, die glauben, es reiche, sie vom Blatt zu singen, und so weiter. Damit wird jede Aufführung zu einem einmaligen Erlebnis – und zum Wagnis.
Auch dieser Abend wird zu einem einmaligen Erlebnis, allerdings im positiven Sinne. Und dieser Auftritt hat neben dem eines Julien Prégardien Gleichrang, um es gleich vorwegzuschicken. Ja. Vielleicht auch nur, weil es die Umstände ermöglichen. Diesem kleinen Flügel, der da vorne aufgebaut ist, kann man nur mit äußerstem Misstrauen begegnen. Tatsächlich aber entwickelt er in diesem Kirchenraum einen derart wohlgestalten Klang, als füge sich ein Kalbslederhandschuh über die Stimme des Sängers. Natürlich ist es Hinz, der dafür sorgt, dass der Flügel so ausnehmend gut klingt. Er weiß ganz genau, was der Sänger braucht; aber er weiß auch ganz genau, was das Publikum braucht. Und so entsteht ein Klang, der sich dem Sänger anschmiegt, um sich gleichzeitig alle dramaturgischen Freiheiten zu nehmen. Vollkommen entspannt wiegt sich Hinz in Schuberts Klängen, leistet sich mal hier, mal da einen Akzent mehr, nimmt sich zurück, wo es notwendig ist: So schön hat man das „Standardwerk“ selten auf dem Klavier gehört.
Scheider steht vor dem kurzen Rücken des Klaviers, als sei er nirgendwo anders zu Hause. Tiefenentspannt bleibt er vor dem Flügel stehen und lässt die Töne fließen. Wie es sich für einen Sänger seiner Klasse gehört, singt er nicht die Lieder, sondern erzählt die Geschichte der Winterreise, wiegelt auf, schickt die Besucher in romantische Situationen, „wann halt ich mein Liebchen im Arm“, um das Publikum allmählich mehr und mehr in die winterliche Einöde zu entlassen, sie allein zu lassen im ungewissen Ausgang. Gibt es noch den Weckruf, das dramatische Aufbegehren bei Der stürmische Morgen, den Ruck, den das Publikum in die Endrunde treibt, wird es im Wirtshaus merklich kühler, gibt Mut ein letztes Statement, ehe Scheider das schier unerträgliche Ende herbeisingt. Die Nebensonne ist ein merkwürdiger Text, den man nicht verstehen muss, aber weiß, dass hier etwas Merkwürdiges geschieht. Am Ende der Reise steht der Leiermann, der nach der ganzen Wanderung zum Leiern einlädt. Nicht so Scheider. Der holt noch mal alles raus, lässt Schubert die ganze Tragik erzählen, dass es selbst dem letzten im Publikum die Gänsehaut über den Rücken treibt. Wir brauchen nicht mehr darüber nachzudenken. Der Wanderer ist auf Gevatter Tod gestoßen und wird mit ihm gemeinsam die Reise fortsetzen. Und da hat Scheider eine Botschaft. Es ist schön, am Ende dieses Weges auf den Leiermann zu treffen. Ein Erlebnis.
Das Publikum tobt, applaudiert, erhebt sich von den Plätzen. Nein, es sind nicht die 2.000, die Sänger und Liedbegleiter sich mit dieser Interpretation in einem Konzertsaal verdient hätten. Aber es ist jedes einzelne Herz in dieser Kirche, das ihnen zufliegt. Und das, sagt Scheider, ist beglückend, ehe er sich in sein Auftrittsverbot begibt.
Michael S. Zerban