Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
WATER WILL (IN MELODY)
(Ligia Lewis)
Besuch am
8. Dezember 2018
(Premiere am 7. Dezember 2018
Inzwischen braucht es für eine Produktion, die keine außergewöhnlichen Mittel einsetzt, sage und schreibe sieben Koproduktionspartner in der ganzen Welt. Was leicht nachvollziehbar wäre, wenn wir vom Hubschrauber-Quartett aus Mittwoch aus Licht von Karlheinz Stockhausen sprechen. Bei einer einstündigen Tanzaufführung mit vier Tänzerinnen ohne Live-Musik scheint das allerdings die Dimensionen zu sprengen. Ist also Lewis eine Nummer zu groß für das Tanzhaus? Die Produktion der Düsseldorfer „factory artist“ jedenfalls ist im Berliner Hebbel am Ufer entstanden. Dann wäre es umso dankenswerter, dass die Verantwortlichen eine solche Aufführung ermöglichen, das Modell der Residenzkünstler allerdings eher eine Farce. Das würde dann auch erklären, warum Lewis bislang in der Stadt nicht angekommen ist. Mit der Folge, dass ihre neue Produktion Water Will (in Melody) am Premierenabend wie auch bei der besuchten Aufführung jeweils keine 100 Besucher erreicht. Und das ist eine Schande. Denn was hier geboten wird, ist phänomenales Theater. Ein Gesamtkunstwerk, von dem selbst Opernhäuser in dieser Intensität kilometerweit entfernt sind.
Musik | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Tanz | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Choreografie | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Bühne | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Publikum | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Chat-Faktor | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Nach einem um 20 Minuten verspäteten Aufführungsbeginn, der den ersten drei Besuchern, die den Saal betreten, lapidar mit einem „technischen Problem“ erklärt wird, steht endlich das Stück im Vordergrund. Völlig ungewohnt für das Tanzhaus, ist der Bühnenraum durch einen Vorhang abgetrennt, der an einer Traverse aufgehängt ist. Es entsteht eine herkömmliche Guckkastenbühne. Vor dem Vorhang tritt eine Lichtschiene in Aktion, die man am ehesten mit einem verlangsamten Stroboskoplicht vergleichen kann. Dani Brown tritt in das flackernde Licht und erzählt auf Englisch das Märchen der Gebrüder Grimm vom Eigensinnigen Kind, während sie sich exaltiert in einem fantasievollen Kostüm vor dem Vorhang hin und her bewegt. Damit ist der Weg des Abends vorgegeben. Ligia Lewis hat eine Choreografie oder Regie, das verwischt permanent, entwickelt, die die Zuschauer in einen verstörenden Sog der Dunkelheit zieht und von den Tänzerinnen alles abverlangt. Ariel Efraim Ashbel zeigt, was man aus dem zur Verfügung stehenden Licht im großen Saal tatsächlich machen kann. Und das ist ziemlich viel. Viel mehr jedenfalls, als man vermutlich jemals in diesem Saal erlebt hat. Unglaublich, wie er ein Gruselstück entstehen lässt, das allein von der Lichtdramaturgie leben könnte. Permanente Scheinwerferwechsel, die vermutlich Catalina Fernandez in der Regie an den Rand des Wahnsinns treiben könnten, wären die Abläufe nicht gespeichert. Perfekt funktionieren die Wechsel zwischen Spots mit hintergründigem Licht, ganz großer Beleuchtung und diffusen Szenen in den passenden Momenten. Dagegen sind die Lichtorgasmen eines kommerziellen Musicals ein blasser Abklatsch. Nicht viel anders verhält es sich beim Bühnenbild von Eike Böttcher. Die Guckkastenbühne, die er herstellt, wird durch die Schals von der Seitenbühne in immer neue Ebenen geteilt. Links hängt ein Seil mit eingearbeiteten Knoten, das zwischenzeitlich von den Tänzerinnen besetzt wird. Und später fallen Nebelschwaden vom Himmel, die auf dem Boden erst Tropfen, dann Pfützen bilden. All das ebenfalls großartig in Szene gesetzt von Ashbel. Bei den Kostümen verausgabt sich das Sourong Studio in Fantasie. Ligia Lewis erinnert ein wenig an Lara Croft und die anderen Tänzerinnen sind in Plastik, Lack und Leinen gekleidet. Allein das eine Augenweide, auch wenn nicht viele der Kostüme bis zum Ende der Aufführung überleben werden.
Foto © Dorothea Tuch
Im ersten Teil des einstündig gezeigten Stücks gibt es nach dem Entrée von Brown Pantomime von Titilayo Adebayo zu sehen, während die anderen drei Tänzerinnen im Hintergrund tableaux vivants bilden. Schließlich folgt der Zusammenbruch Lewis‘ zu den instrumentalen Klängen von Isoldes Liebestod von Richard Wagner, die mit dem Geräusch berstender Wellen unterlegt sind. Der nachfolgende Monolog von Lewis auf Englisch – eine deutsche Übersetzung wird vorbildlich zusammen mit dem Abendzettel gereicht – gibt die Einleitung von Edmund Burkes Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen wieder, in der es um die Dunkelheit geht. Ganz dicht steht sie dabei vor der ersten Publikumsreihe, spricht einzelne Besucher an, ehe sie ihre Angst sinnbildlich auskotzt. Im zweiten Teil steigert sich die apokalyptische Dramatik, die seit dem Ärmchen, das aus dem Grab ragt, über der Szene liegt, zu einem kakofonischen Singsang mit Texten zur Verbindung von Dunkelheit und Terror von Edmund Burke aus dem Jahr 1757 und Willful Subjects von Sara Ahmed aus dem Jahr 2014. Währenddessen rutschen die Tänzerinnen – Susanne Sachsse mit blankem Hintern und Lewis mit heruntergelassener Hose, Dina Brown hat ihr Oberteil schon vorher verloren – auf dem gewässerten Bühnenboden hin und her. Ja, es braucht die Nacktheit, weil sie die Eskalation des Werkes und kraftvoll selbstbewusst die Körperlichkeit unterstreicht. Am Ende glaubt niemand mehr, dass es weitergehen kann. Der Weltuntergang ist erreicht, die Bühne eine Wüste. Der Schlusspunkt hämmernd gesetzt.
Jassem Hindi schafft eine Klangkulisse, die zwischen sakraler Hochkultur, wasserbezogenen Lauten und bedrohlichen Melodien wechselt. Ohne Angst vor Lautstärke wird der Besucher in einen permanenten Sog gezogen, der ihn in eine andere Welt entführt.
Noch völlig benommen von der Suggestivkraft des eben gezeigten Stückes applaudieren die Besucher trotzdem standhaft. Wer die wahrhafte Kraft des Theaters heute sucht, wird sie bei Lewis finden. Die Tänzerinnen haben von ihrer Stimme bis zu ihrer Körperlichkeit alles gegeben, um das Publikum in eine andere Sphäre mitzunehmen. Und es ist ihnen gelungen. Weil Lewis hier in eine andere Ebene vorgestoßen ist. Es gibt noch eine weitere Vorstellung am Sonntag. Wer Edgar Alan Poe, Richard Wagner, die Grausamkeit der Gebrüder Grimm oder die Arbeiten von Ligia Lewis mag, sollte alle Hebel in Bewegung setzen, um sich diese Aufführung nicht entgehen zu lassen.
Michael S. Zerban