O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Odin reitet wieder

WANDERNDER ERZÄHLER
(Diverse Komponisten)

Besuch am
25. August 2022
(Premiere)

 

Liedsommer 2022, Maxhaus, Düsseldorf

Es ist ein richtiger Sommer. Die Hitze steht in den Straßen der Altstadt. Touristen drängen in die Cafés und Restaurants. In ihren Reiseführern haben sie gelesen, dass man in Deutschland nicht so spät zu Abend isst wie in anderen Ländern. In den Bistros wird der Alkohol konsumiert, als gäbe es kein Morgen mehr – oder als könne man ihn sich morgen nicht mehr leisten? Es ist Donnerstag. An diesem Tag ist die Veranstaltungsdichte geringer als an anderen Tagen. Das restlos verplante Wochenende steht unmittelbar bevor, nur noch ein paar Arbeitsstunden liegen dazwischen. Warum jetzt noch Geld ausgeben, das man eigentlich ohnehin nicht mehr hat? Auf der anderen Seite hat derjenige, der sich traut, am Donnerstag trotzdem eine Veranstaltung anzubieten, gute Chancen, dass sie eher wahrgenommen wird. Beim Maxhaus, dem „katholischen Stadthaus“, wie es sich selbst nennt, bleibt der große Ansturm aus. Da kann man eine Viertelstunde vor Aufführungsbeginn auf den Eingangsstufen sitzen, ohne jemanden beim Betreten des Hauses zu behindern. Drei Meter weiter im Kircheneingang hat ein Obdachloser sein Nachtlager aufgeschlagen. Eine von vielen Lebensgeschichten, die die Straßen kreuzen. Vor 60 Jahren hätte ein François Truffaut oder ein Jean-Luc Godard aus der Szenerie vielleicht einen Episodenfilm gemacht, der in der Nouvelle Vague Erfolge in Schwarzweiß gefeiert hätte. Der Versuch, sich die Altstadt in schwarzweiß vorzustellen, scheitert, weil das Leben so bunt ist. Und so geht es in den großen Saal im Maxhaus, wo andere Geschichten warten.

Thilo Dahlmann – Foto © O-Ton

Hier heißt es erst mal durchatmen. Der große, ehemalige Klosterinnenhof, der heute mit einem Glasdach versehen ist, ist klimatisiert. Rechts neben dem Eingang gibt es eine Bar, die für größere Aufgaben vorgesehen ist. Im Raum sind vor dem Flügel etwa vierzehn Tische verteilt, von denen fünf unbesetzt bleiben. An vielen anderen haben Einzelpersonen oder Pärchen Platz genommen. So wirkt der Raum trotz der geringen Personenplatz gut besucht. Da hat sich jemand richtig Gedanken gemacht. Thilo Dahlmann und Doriana Tchakarova treten an den Flügel, um dem Publikum ihr Programm Wandernder Erzähler zu Gehör zu bringen.

Bass-Bariton Dahlmann studierte Gesang an der Folkwang-Universität in Essen, als sie noch Folkwang-Hochschule hieß. Nach einer Karriere auf der Opernbühne und auf dem Konzertpodium ist er heute Professor für Gesang in Frankfurt. Doriana Tchakarova kommt gebürtig aus dem bulgarischen Varna und hat sich als Klavierbegleiterin wie als Kammermusikerin einen internationalen Ruf erarbeitet. Kurze Verbeugung, ab in die Position und Start. Einmal mehr wird einem heute Abend klar, dass die „alte Schule“ ausgedient hat. Das wird später noch deutlicher werden.

Vorerst gelingt Dahlmann ein eindrucksvoller Einstieg mit zwei Liedern von Hugo Wolf. Der Musikant und Die Nacht beruhen auf Gedichten von Joseph von Eichendorff. „Wir nehmen das Publikum mit auf eine Wanderung durch reale und imaginäre Landschaften, durch persönliche Lebensgeschichten und musikalische Epochen“, haben die beiden ihr Programm angekündigt. Ja, und irgendwie stimmt es ja auch. Auch der Abendstern, der die Lieder von Franz Schubert einläutet, hat mit imaginären Landschaften zu tun, wenn man will. Kraftvoll trägt Dahlmann den Alpenjäger vor, findet intensive Töne für Im Frühling und Das Lied im Grünen, ehe er von den seelischen Befindlichkeiten des einsamen Wanderers aus Johann Seidls 1826 entstandenem Gedicht Der Wanderer an den Mond erzählt. Kraftvoll geht es zu im dritten Abschnitt des ersten Teils. Drei Gedichte von Michelangelo Buonarroti hat Hugo Wolf vertont, die Tchakarova und Dahlmann voller Inbrunst vortragen.

Doriana Tchakarova – Foto © O-Ton

Haben die beiden Künstler schon im ersten Teil jeden Augenkontakt mit dem Publikum vermieden, hätte sich nach der Pause eine schöne Gelegenheit ergeben, den Kontakt zu suchen. Zum Beispiel, indem Dahlmann kurz erzählt hätte, um was es in den drei englischen Liedern von Ralph Vaughan Williams geht. Weil Dahlmann die Chance ungenutzt verstreichen lässt, sind die Zuhörer hier auf Wohlklang von Klavier und Stimme beschränkt. Was sich immerhin als dramaturgisch wirkungsvoll zeigt, weil sich damit der letzte Teil des Abends umso deutlicher absetzt. Carl Loewe wurde 1796 in Löbejün in der Nähe von Halle geboren, verbrachte einen Großteil seines Lebens in Stettin und starb 1869 in Kiel. Sein Name fällt in Sachen Kunstlied nicht als erster, aber er war es, der die Kunstform der Ballade bekannt machte. Als Komponist und Sänger gelangen ihm hier neben Oratorien, Opern, Sinfonien und Klavierkonzerten beachtliche Erfolge. Und seine Musik liegt Dahlmann. Schon mit Tom der Reimer kann er einen ersten Akzent setzen, das nachfolgende Herr Oluf begeistert vor allem wegen seiner tänzelnden Klavierbegleitung und mit dem Erlkönig gelingt ihm, Gruselstimmung zu erzeugen. Nach dem Späten Gast schließt der Bass-Bariton sein Programm mit Aloys Schreibers Odins Meeresritt. Auch die Zugabe fügt sich prima in die Vergänglichkeit des Lebens ein, wenn die beiden hier Loewes Uhr auswählen.

Insgesamt ein schöner, ungewöhnlicher und abwechslungsreicher Abend mit einer ordentlichen Portion Drama und Seelentiefgang, der nicht nur Anhängern des Kunstliedes gefallen dürfte. Zu Recht dürfen Dahlmann und Tchakarova sich für ihre musikalischen Leistungen mit langanhaltendem Applaus feiern lassen.

Michael S. Zerban