Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
TRUE CRIME
(Andrey Kaydanovsky, Hege Haagenrud, Demis Volpi)
Besuch am
5. April 2024
(Premiere am 7. März 2024)
Gestern wurde in Dortmund ein Obdachloser von einem Dreizehnjährigen niedergestochen. Leider inzwischen kein Einzelfall mehr. Es ist eines dieser Verbrechen, die so abscheulich, so unfassbar sind, dass der menschliche Verstand kaum mehr damit umgehen kann. Serienmörder laufen frei herum oder entkommen wegen juristischer Spitzfindigkeiten ihrer Strafe, im ukrainischen Butscha wurden die Einwohner brutal niedergemetzelt, ohne dass der Anstifter des Verbrechens, immerhin wohl ein russischer Ministerpräsident, bis heute zur Verantwortung gezogen wurde. Mit solcher Unmenschlichkeit kann der Mensch nicht umgehen. Mitte des 18. Jahrhunderts formierten sich deshalb in Amerika Bürgerwehren, der Begriff Lynchjustiz wurde geprägt. Wenn der Staat nicht für Gerechtigkeit sorgen konnte, wollten die Bürger die Strafe selbst in die Hand nehmen. Es ist bekannt, dass es ein falscher Weg war. 1966 veröffentlichte Truman Capote sein Buch In Cold Blood – zu Deutsch Kaltblütig – mit dem er ein neues Ventil fand. Das Genre des True Crime war geboren.
Längst ist True Crime im Mainstream angekommen. In der Sachliteratur, in Podcasts im Internet, in Fernsehserien und Dokumentarfilmen versuchen Menschen, „wahren Verbrechen“ auf den Grund zu kommen. Ein berühmtes Beispiel in Deutschland für ein True-Crime-Buch ist Stefan Austs Werk über die Rote Armee Fraktion, bekannter ist vielleicht noch die Sendereihe Aktenzeichen XY ungelöst im ZDF. Im Internet gibt es inzwischen zahlreiche Foren, in denen sich Menschen über Verbrechen austauschen können. Das geht von Theorien über Ermittlungsversuche bis hin zu – so ist zu lesen – tatsächlichen Erfolgen, zur Festnahme und Verurteilung von Tätern. Es ist ein gutes Genre, verhindert es doch, dass Menschen ohne Rechtsurteil bestraft werden, gibt aber den Menschen die Möglichkeiten, ihre Ohnmacht zu überwinden. Dass über die Gestaltung von True-Crime-Medien durchaus diskutiert wird, zum Beispiel über die Gewichtung von Täter- und Opferdarstellung, ist – bislang – eine gesunde Entwicklung, ist sie doch Zeichen für eine funktionierende Auseinandersetzung.
Foto © Daniel Senzek
Demis Volpi, noch Ballettchef der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, hat zwei Choreografen eingeladen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und das Ergebnis tänzerisch gemeinsam mit ihm in einer Produktion zu zeigen. Andrey Kaydanovskiy ist in Moskau geboren, erhielt in seiner Heimatstadt, Stuttgart und Wien seine Ballettausbildung und arbeitet seit 2009 auch als Choreograf. Aus Norwegen stammt Hege Haagenrud. Für ihre eigene Compagnie, das Norwegische Nationalballett in Oslo, und andere hat sie seit 2002 mehr als 20 Choreografien entwickelt.
Sebastian Hannak hat für diesen Abend eine Bühne entwickelt, die für alle drei Choreografen in Abweichungen funktioniert und mit ihren zahlreichen Lampenschirmen für eine ästhetische Wirkung sorgt. Das Licht dieser Halbkugeln dient für Christian Kass aber nurmehr als zusätzliches dekoratives Element. Der Lichtbildner hat eine LED-Schiene rund um den Guckkasten, der über den Graben reicht, verlegen lassen, die neben zahlreichen anderen Ideen für schöne Effekte sorgt. Erst zusätzliche Scheinwerfer sorgen dafür, dass die Bühne ins rechte Licht gesetzt wird und die aktiven Tänzer gut sichtbar bleiben. Das ist überaus angenehm. Christoph Kirschfink sorgt – mittels Quadrophonie? – für ein faszinierendes Sounddesign, das vor allem in der ersten Choreografie beeindruckt. Später überwiegt der Ärger über ein künstlich verwaschenes Englisch, das offenbar nicht verstanden werden soll, was eher ablenkt als begeistert. Bregie van Balen hat Kostüme entwickelt, die ansehnlich sind, zu den jeweiligen Choreografien passen und sich teilweise überschneiden, so dass auch hier eine scheinbare Gemeinsamkeit entsteht, die aber nicht über das Dachthema hinausreicht.
Foto © Daniel Senzek
Chalk, also Kreide, nennt Kaydanovskiy seine Uraufführung. An einem Tatort, der durch ein Sofa und eine Stehlampe gekennzeichnet wird, sind in der Mitte des Raums die Kreidestriche zu erkennen, die eine Leiche markiert haben könnten. Darum herum finden nun die „Untersuchungen“ der vier bis sechs Tänzer statt. Aus ihren Bewegungen kann man Verstrickungen, Befragungen und ähnlich typische Vorgänge ablesen. Der Knalleffekt am Ende der Choreografie schockiert wohl weniger die Erwachsenen als die ebenfalls anwesenden Kinder im Publikum. Insgesamt eine ordentliche, gefällige Leistung, die dem Thema gerecht wird. Auf Tanz verzichtet Haagenrud, lässt allenfalls schiebende Bewegungen zu. In The Bystanders findet sie eine Zeichensprache, die gar in einem Glossar mündet, das im Programmheft abgedruckt ist. Eine lustige Idee: Da kann man dann zuhause noch einmal das eigene visuelle Gedächtnis überprüfen, wenn man die vielen Rechtschreibfehler im Programmheft erträgt, und die Handzeichen nachvollziehen. Auch die Erkenntnis des Stückes, dass die unbeteiligten Zuschauer am Tatort umso weniger hilfsbereit sind, je mehr es werden. Hier belässt es sogar das klatschfreudige Publikum bei einem gedämpften Applaus, versucht aber immerhin in der nachfolgenden, erneuten Pause den Sinn einer solchen Aufführung im Rahmen eines Ballettabends zu finden. Vergeblich. Was die Besucher zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen: Sie werden gleich Zeuge einer Choreografie, in der wirklich Ballett gezeigt wird.
In Non-Fiction Études von Demis Volpi vertanzt das Ensemble das Leben des amerikanischen Schriftstellers Truman Capote. Dazu wird ein offener Käfig im Hintergrund der Bühne aufgebaut, in dem Aleksandr Ivanov am Flügel Platz nimmt. Auf der Leinwand hinter ihm werden immer wieder Begriffe gezeigt, die helfen, die jeweilige Lebensstation zu verorten, während der Pianist Stücke aus Sergej Rachmaninows Études-tableaux spielt. Der Schriftsteller, der mit seinem Werk In Cold Blood den Vierfachmord an der Farmerfamilie Clutter aus dem Jahr 1959 journalistisch aufarbeitet, hadert nicht nur mit dem Leben, mit seinem Leben, sondern setzt auch alles daran, in einer jahrelangen Recherche zu einem neuen Genre zu finden. Es gelingt ihm, den Begriff des True Crime als erster in einer Publikation zu verwirklichen, aber er zerbricht daran. In den Folgejahren ist sein Leben von Alkohol- und Drogenkonsum gekennzeichnet. Um die Vielschichtigkeit seines Charakters aufzuzeigen, wird er von verschiedenen Personen getanzt. Und Volpi zeigt hier wirklich Ballett vom Feinsten. Spitzentanz, Drehungen, Hebungen und Sprünge wechseln in rasantem Tempo. Es ist eine helle Freude, dem Geschehen zu folgen, wunderbar räumlich aufgeteilt und dramaturgisch bestens aufbereitet. In blutroten Kostümen, die sogar einen Hauch von angedeuteter Erotik zeigen, dürfen die Tänzer eine Körpersprache ausleben, die man fast schon vergessen glaubte.
Zu Recht feiert das Publikum, dessen Reihen sich in der zweiten Pause dann doch gelichtet haben, den Choreografen und sein Ensemble mit Bravo-Rufen. Es lohnt sich unbedingt, bis zum Schluss durchzuhalten, um dieses wunderbare Stück zu erleben.
Michael S. Zerban