O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Alle Grenzen sprengen

TABULA RASA
(Christian Eggert, Takao Baba)

Besuch am
23. September 2020
(Uraufführung)

 

Mitsubishi Electric Halle, Düsseldorf

Da haben sich die Kulturschaffenden ganz schön geirrt in der Bundesrepublik. Sie haben gedacht, sie müssen nur ihre Türen – gerne nach einer verlängerten Sommerpause – wieder öffnen und schon strömen die Menschen zurück in die Kulturpaläste und -institutionen, um liebgewonnenen Gewohnheiten zu frönen und ein Wiedersehen zu feiern. Inzwischen ist die große Ernüchterung eingekehrt. Das Publikum lässt sich von der angstverbreitenden Politik der Regierung offenbar stärker einschüchtern als erwartet. Trotz aller Sicherheitskonzepte, die einen sicheren Besuch von Aufführungen gewährleisten, bleiben die Besucherzahlen weit hinter den Erwartungen zurück.

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Und es betrifft nicht nur die althergebrachten Institutionen, die teilweise mit recht zweifelhaften Sicherungsmaßnahmen daherkommen, sondern auch das Düsseldorf-Festival, das mit einem in dem einen oder anderen Punkt sicher schon überzeichnet erscheinenden Sicherheitskonzept punktet. Ob man wirklich mit einer Maske in der Aufführung sitzen muss, kann man diskutieren – und vielleicht schreckt auch den einen oder anderen die Vorstellung ab, mehr als eine Stunde mit dem Lappen im Gesicht zu verbringen. Aber da bleibt das Düsseldorf-Festival unerschütterlich. Das Publikum fügt sich und merkt, dass es auch so geht. Zumindest das Publikum, das zu den Aufführungen spärlich erscheint.

Tatsächlich haben die Nicht-Besucher in den vergangenen Tagen schon einiges verpasst. Und an diesem Abend steht ein besonderer Höhepunkt des Festivals an. In Kooperation mit dem Theaterkollektiv Urbanatix ist ein Abend entstanden, der alle Genre-Grenzen sprengt, modern und mit vielen Überraschungsmomenten daherkommt, die bei den anwesenden Gästen Begeisterung auslösen.

Vierzehn Künstler bestreiten den Abend. Und sie geben sich alle Mühe, möglichst viele Genre-Grenzen zu sprengen. Die Zuschauer sind darauf angewiesen, sich vom Moment leiten zu lassen. Denn es gibt weder Programm noch Abendzettel. Eröffnet wird die Aufführung mit einem Text aus Fernando Pessoas Die Rückkehr der Götter, ein poetischer Ausflug in ein bizarres Nichts, der von Schauspieler André Kaczmarczyk aus dem Off gesprochen wird. Dabei tauchen die Akteure, die sich in den Bühnenhintergrund gesetzt haben, erstmalig im Rampenlicht auf. Wie es sich für eine Uraufführung gehört, ist das alles noch ein wenig holprig. Die Verfolger sitzen nicht richtig und stimmen im Timing nicht. Aber eigentlich unterstreicht das den unwirklich erscheinenden Text nur.

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Für die folgende Stunde hat Regisseur Christian Eggert in Zusammenarbeit dem Choreografen Takao Baba ein randvolles Paket an Akrobatik und Tanz geschnürt, das sich nun in atemberaubender Abfolge über die Zuschauer ergießt. Guillaume Karpowicz zeigt seine Diabolo-Künste. Das Diabolo ist eine Rolle, die über einen Faden geführt wird. Karpowicz beherrscht das in Meisterschaft. Katharina Lebedew zeigt zur Live-Musik von Cellistin Lih Qun Wong, wie weit man seinen Körper verbiegen kann, ohne den ästhetischen Reiz aus den Augen zu verlieren. In einer Ensemblenummer versprühen die Tänzer Andrea Böge, Osei Kwame, Solomon Quaynoo, Patrick Williams Seebacher und Hanna Vien reinste Lebensfreude, eine Spezialität von Baba, die zusätzliche Qualität durch eine virtuos das Marimbaphon bedienende Carlotte Ribbe erfährt. Nach Florian Zumkehr, der sich im Handstand über Holzbalken auf einem Tisch hangelt und damit das Publikum jauchzen lässt, zeigen Quaynoo und Kwame einen Krump, einen Tanz, der an kunstvoll dargebotenen Hiphop erinnert. Und so geht die Mischung aus Kunststücken und körperlicher Bewegung in rascher Folge weiter. Immer wieder eingebunden werden Tische, die den Künstlern als Requisit oder Arbeitsgrundlage dienen.

Am Vertikalseil begeistern Natalie Oleinik und Joachim Ciocca als Duo „Nat & Jo“, an der Tanzstange verblüffen Mario Espanol und Carlos Zaspel als Duo „Flying Pole“. Ständig neues Tempo erfährt der Abend durch die Tanzeinlagen, die neben der Live-Musik durch eingespielte Musikrhythmen zusätzliche Energie erfahren. Ja, es ist reine, bezaubernde Unterhaltung auf höchstem Niveau. Aber wie wohltuend ist das nach den Entbehrungen des vergangenen Halbjahres. Und wenn man ehrlich ist, ist es eigentlich auch ganz angenehm, dabei nicht dem Nachbarn auf dem Schoß zu sitzen, zusammengepfercht wie Hühner auf der Stange, sondern dem Nachbarn erst zwei Stühle weiter das Glänzen in den Augen zu zeigen, das sich bei einer solchen Aufführung einstellt.

Zwei weitere Aufführungen sind noch vorgesehen. Für dieses Vergnügen lohnt es sich, auch kurzfristig eine weitere Anreise in Kauf zu nehmen.

Michael S. Zerban