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Kurze Stimmgewalt

SUPERVERSAMMLUNG
(SE Struck)

Gesehen am
19. März 2021
(Uraufführung)

 

Tanzhaus NRW, Düsseldorf

Lange hat es gedauert. Aber allmählich scheinen die Künstler doch zu begreifen, dass sie sich mit dem Internet und seinen Möglichkeiten auseinandersetzen müssen. Immer häufiger sind in den letzten Wochen Stücke im Internet zu sehen, die zeigen, dass Künstler sich mit dem „neuen“ Medium – und seinen Möglichkeiten! – beschäftigen. Wer dieser Tage bei Bibiana Jimenez, einer Kölner Choreografin, auf die Website geht, darf dort das Ergebnis einer Recherche zum Thema Frauenhass und Sexismus im Internet betrachten. Und erkennen, dass wir mit den künstlerischen Ausdrucksformen im Netz gerade erst am Anfang stehen. Jimenez gibt schon mal einen kleinen Ausblick, welche Welten da noch zu erkunden sind.

Die Unsicherheiten sind noch groß, fehlendes Know-how muss in rasend kurzer Zeit bei Minimal-Budgets aufgeholt werden. Es gibt kein Entrinnen. Die jüngste politische Entwicklung zeigt, dass wir von der Rückkehr zu irgendwelchen Live-Aufführungen weiter entfernt sind denn je. Die Angstkulisse wird weiter ausgebaut anstatt zurückgenommen. Vom Grundrecht auf Kunstfreiheit redet schon lange keiner mehr. Also müssen die, die kein Geld für Klagen haben, zusehen, wie sie überleben. Der einzige Weg führt derzeit über das Internet. Aber hier sind eben innovative Formen gefragt. Nach einem Jahr abgefilmter Aufführungen wollen, können die Leute das auch beim besten Willen nicht mehr sehen.

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Und so hat sich auch das Kollektiv See! entschlossen, die im vergangenen Oktober gezeigte Uraufführung Superversammlung/superassemblage vorerst nicht mehr auf die Bühne zu bringen, sondern zu verfilmen. See! sind SE Struck und Alexandra Knieps, die ihre Compagnie je nach Projekt zusammenstellen. Bei der Verschiedenheit ihrer Projekte, die sie von Köln aus ins Leben rufen, durchaus verständlich. Jetzt widmen sie sich also dem Film, basierend auf einem Theaterstück. Es dauert eine Weile, bis man versteht, um was es geht, vor allem, wenn man die Vorankündigung nicht gelesen hat. Drei Frauen durchstreifen den Backstage-Bereich und den Großen Saal im Düsseldorfer Tanzhaus NRW zu hämmernden Rhythmen, während die Bühne unter Rauch steht und in finsteres Licht getaucht ist. Svenja Gassen hat die drei Damen in Kimonos gesteckt. Noch ist man ganz auf die tänzerischen Bewegungen, schnelle Schnitte und Nahaufnahmen fixiert. Stefan und Benjamin Ramirez Pérez sorgen da für präzise Aufnahmen, Ian Purnell hat sie hinterher geschnitten. Das ist alles gut gemacht, wird aber bei der Video-Plattform Vimeo nicht ausreichend gewürdigt. Es ist einfach ärgerlich, dass die Video-Plattformen die Bilder gnadenlos herunterrechnen. In diesem Jahr werden Kameras mit einer Aufnahmequalität von 8K gehypt, während die Plattformen über HD nicht herauskommen. Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß, wenn große Farbflächen verschwimmen, weil die Dienste nicht die notwendigen Voraussetzungen bereitstellen.

Erst, als ein englischer Text einsetzt, der im Chor wiederholt wird, beginnt man zu ahnen, dass es hier weniger um die Bilder geht als um die Sprache. Gewissheit gibt es, wenn die erste Tänzerin vergeblich versucht, sich zu formulieren. Die Chorstimmen verzerren. Die Musik von Ben Lauber und Sebastian Stuber wechselt zu einem Gemisch von Vogelstimmen und Indianergeheul. Erst später wird sich herausstellen, dass die Darstellerinnen einen weitaus höheren Stimmanteil am Klang haben, als zunächst vermutet. Und während man noch darauf wartet, dass die Handlung nun beginnt, endet der Film abrupt. Eine halbe Stunde lang werden Erwartungen geschürt, ständig neue Dimensionen aufgebaut, die sich dann abrupt im Nichts verlieren.

Später wird Struck erklären, dass man erst die Verdichtung im Film habe lernen müssen. Gut, aber da haben Kristina Brons, Montserrat Gardó Castillo und Senem Gökçe Oǧultekin schon so viel Potenzial gezeigt, dass der Film eher wie ein Fragment wirkt. Stimmung, Musik und Tanz stimmen und hätten gern weitergedacht werden dürfen. Auch wenn die neuen Sprachräume sich aus Sicht der Künstlerinnen erschöpft haben. Beide versprechen einhellig die Weiterentwicklung. Und so darf man den heutigen Abend vielleicht eher als work in progress begreifen, der nicht nur in stimmlicher Hinsicht viel verspricht.

Michael S. Zerban