O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bozica Babić

Aktuelle Aufführungen

Das letzte große Abenteuer

SÜDWÄRTS
(Marlin de Haan)

Besuch am
10. November 2021
(Uraufführung)

 

Forum Freies Theater in Holthausen, Düsseldorf

In diesen Tagen hat das Forum Freies Theater in Düsseldorf, ein Produktionshaus für die so genannte Freie Szene, seine neuen Räumlichkeiten im ehemaligen Postgebäude am Konrad-Adenauer-Platz 1 bezogen. Im ersten Stock des aufwändig sanierten Gebäudes, das jetzt KAP1 heißt, ist das gesamte FFT zusammengezogen worden, das vorher auf verschiedene Räumlichkeiten in der Stadt verteilt war. Über dem FFT ist die Zentralbibliothek der Stadtbüchereien eingezogen. Und damit ist ein weiteres kulturelles Zentrum in Düsseldorf entstanden, denn schräg gegenüber liegt das Central, die Ausweichstätte des Schauspielhauses Düsseldorf, aus der jetzt das Kinder- und Jugendtheater werden soll, das damit wieder in die Stadtmitte zieht, und wenige Meter entfernt liegt das Tanzhaus NRW. Ob sich daraus neue Synergie-Effekte ergeben, darf man bezweifeln, schließlich waren die einzelnen Institutionen vorher auch nur ein Telefonat voneinander entfernt. Eine bessere Sichtbarkeit ist ebenfalls nicht erkennbar, da müssen sich die Kulturschaffenden noch eine Menge einfallen lassen. Helfen könnte schon einmal ein Qualitätsschub. Trotzdem darf man die Standortentscheidung feiern. Denn mit dem neu entstehenden Stadtteil hinter dem Bahnhof entsteht eine neue lokale Zielgruppe, die nicht zu unterschätzen ist. Auch von der besseren Erreichbarkeit dürften die Verantwortlichen sich eine Menge versprechen. Und schließlich kann es auch dem Bahnhofsviertel nicht schaden, wenn dort mehr Kultur Einzug hält.

Bevor das FFT die neuen Bühnen für das Publikum öffnet, lädt es noch einmal zu einer Unternehmung in die Stadt ein. Marlin de Haan stellt ihre neue Produktion Südwärts vor. Sie nimmt ihre Besucher mit in eine Zeit, in der Männer noch echte Helden sein durften. In der Krieg noch eine politische Option statt eines Gewaltverbrechens gegen die Menschlichkeit war. Es ist die große Zeit der Polarforscher. Abenteurer, Draufgänger und Wissenschaftler machten sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Weg in das „Ewige Eis“, das, wie wir heute wissen, längst nicht so ewig ist. Einen vorläufigen Höhepunkt im Wettlauf um die Entdeckung der Antarktis durfte Roald Amundsen für sich verbuchen, 1911 als erster den Südpol zu erreichen. Damit stahl er einem anderen Antarktis-„Forscher“ die Show. Sir Ernest Henry Shackleton sollte dennoch berühmt werden, wenn auch aus ganz anderem Grunde. Als erfahrener Expeditionsleiter war er bereits zu Ruhm und Ehren gelangt, als er beschloss, die Antarktis einmal komplett zu durchqueren, immerhin eine Strecke von rund 2.800 Kilometern. 1914 sollte es losgehen mit der „Endurance-Expedition“. Als Großbritannien am 3. August in den Ersten Weltkrieg eintrat, bot Shackleton sein Forschungsschiff der britischen Admiralität an. Winston Churchill, zu der Zeit Erster Lord, gab jedoch die Order aus, die Vorbereitungen zur Expedition fortzusetzen. Und so lief die Endurance am 8. August aus dem Hafen von Plymouth in ihr Verderben aus. Shackleton sollte damit nicht als großer Polarforscher in die Geschichte eingehen, sondern als Führungskraft, der es gelang, alle Menschen, die auf der gesunkenen Endurance waren, zu retten.

Die Geschichte des heutigen Abends beginnt im Foyer des FFT, wo sich das Publikum versammelt. Gemeinsam geht es im Eilschritt vorbei am Central zum wartenden Kleinbus. Der Bus bringt die 18-köpfige Gruppe tatsächlich südwärts. Es geht in den Stadtteil Holthausen, wo sich die Reisholz-Werft befindet. Ein Ort, so zumindest der Eindruck in der Dunkelheit, der ideal für Fotografen ist, die lost places lieben. Die Zeit im Bus wird wenig genutzt. Aus den Lautsprechern klimpert entspannte Jazz-Musik, die Isabella Forster komponiert hat. Auf dem kleinen Monitor über dem Fahrer sind historische Bilder von Expeditionen zu sehen. Unglaublich, welche Bedeutung damals die Schlittenhunde hatten. Aber hier hätte man sich doch die dramatische Einstimmung auf die kommenden Ereignisse gewünscht. Nichts dergleichen. Es bleibt bei allgemeinen Verhaltensregeln. Bei der Ankunft werden die Besucher von einem Pinguin begrüßt. Saskia Rudat ist in das Kostüm geschlüpft. Die Besucher werden in ein historisches Gebäude geführt. Dort müssen sie sich einkleiden. Die Bekleidung ist nach Angaben der „Betreuer“ desinfiziert, trotzdem erfüllt einen der Vorgang mit Unbehagen. Aber ging es den Expeditionsteilnehmern damals nicht ähnlich? Haben sie sich auch in unpassende und zu dünne „Schutzkleidung“ zwängen müssen? Zwei Besucher passen in diesem Moment. Dazu wird sicher auch der recht rigide Umgangston beigetragen haben. Ein kleines Bitte hier und ein großes Danke dort wird in den Folgevorstellungen, wenn sich bei den Betreuern die Nervosität gelegt hat, sicher einstreuen lassen. Schließlich findet sich das Publikum vorschriftsgemäß eingekleidet und in „Teams“ eingeteilt vor dem Gebäude wieder. Eiligen Schrittes werden die Besucher über ein Gelände geführt, bis sie vor einem Halleneingang ankommen.

Aus dem folgenden Teil möchte de Haan ein großes Geheimnis machen. Was Quatsch ist. Denn die Idee ist so gut, dass sie auch dann funktioniert, wenn man sie kennt. Die Regisseurin greift auf eines der ältesten Theatermittel zurück. Die Halle ist mit Nebel gefüllt. Du kannst definitiv nichts sehen. Wirst in eine kalte Landschaft gestoßen, deren Boden schneeweiß ist. Ganz allmählich gewöhnt sich das Auge an die neblige Dunkelheit, die von diffusem Licht durchbrochen wird. Einzelne Gegenstände werden erkennbar. Die Atmosphäre ist sensationell. Für den einen sicher von faszinierender Schönheit, für den anderen erschreckend ob der Primitivität. Hanna Werth, die jüngst als Eselin in der Tonhalle begeisterte, spricht einen Text von Helen Brecht, der auf verschiedenen Werken von Teilnehmern der Endurance-Expedition beruht. Wie macht man seinen Text künstlerisch? Man streut englische Passagen ein. Der Erzählung zufolge befinden sich die Teilnehmer in einer sonnenüberfluteten Eislandschaft. Aber egal. Das Ambiente zählt, die Sounddesignerin Forster hier mit kräftigen sphärischen Klängen untermalt. Ein eindrucksvolles Erlebnis, das einen Besuch unbedingt lohnt.

Nach dem Hörstück, das kaum eine halbe Stunde erreicht, was aber für die Hörer auch vollkommen ausreichend ist, werden die Besucher außerhalb der Halle zum Tee bei einem Feuer in einem kleinen Ofen geladen. Für den Schlussteil hält Brecht noch einen Text bereit, den Rudat, jetzt mit abgelegtem Pinguin-Kopf, vorzutragen hat. Es ist ein Fazit der Expedition, und bis dahin ist alles in Ordnung. Dann aber schwenkt Rudat um und erzählt über das Gelände, auf dem sich das Publikum befindet. Schwer hängt der Halbmond über dem Rhein, in dem sich das fahle Licht träge widerspiegelt. Umgeben von drei Naturschutzgebieten soll aus dem Areal, auf dem sich Künstler-Innenateliers befinden, keine Ahnung, was das ist, ein Container-Hafen werden, aber da werden die Bürger innen sicher noch ein Wort mitzureden haben. Warum dürfen sich die Bürger nicht außen dazu äußern? Keine Antwort. Der Bruch ist nicht nachvollziehbar. Aber wen interessiert das auch in der Dunkelheit nach einem solch eindrucksvollen „Hallenbesuch“? Niemand. Die ersten wollen aufbrechen, nachdem Rudat ihnen freigestellt hat, mit dem Shuttle-Bus oder der U-Bahn nach Hause zu fahren. Die Anweisungen des Abends sind häufiger unpräzise, aber das wird sich vermutlich bei den Folgeveranstaltungen noch ändern.

Schließlich findet sich die gesamte Gruppe, ihrer „Schutzausrüstung“ entledigt, doch im Bus wieder. Es gibt weder eine „Abmoderation“ noch eine musikalische Untermalung. Da müssen sich die Besucher ihre eigenen Gedanken machen. Es gibt keine Gelegenheit zum Applaus. Das ist schade, denn das Erlebnis in der Lagerhalle wird sicher lange im Gedächtnis bleiben.

Michael S. Zerban