O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Musik von der Werkbank

SINFONIE DES FORTSCHRITTS
(Nicoleta Esinencu)

Besuch am
28. Januar 2022
(Premiere)

 

Forum Freies Theater, Großer Saal, Düsseldorf

Ja, man ist es schon ein wenig müde. In Deutschland und der Welt läuft gerade wenig rund. Die Dummheit regiert, die Medien helfen dabei und dem Bürger wird permanent eingetrichtert, auf was er alles verzichten soll, um die Welt zu verbessern. Um die Gesellschaft zu spalten, scheuen ein paar Gruppen nicht davor zurück, die Sprache zu verfälschen. Und dazwischen rennen verschreckte Kinder herum, die an den Weltuntergang glauben und nicht verstehen, warum die Erwachsenen sie nicht endlich retten. Eigentlich, so möchte man meinen, sind das Themen genug, um das Publikum damit zu überfrachten und es aus dem Theater zu vergraulen. Aber es findet sich ja immer noch was.

Artiom Zavadovsky – Foto © O-Ton

Zurzeit tourt das neue Stück der rumänischen Theatermacherin Nicoleta Esinencu durch die deutsche Freie Szene. Jetzt wird die Sinfonie des Fortschritts zwei Mal im Forum Freies Theater in Düsseldorf aufgeführt. Inhaltlich kann einen dieses Stück schon ziemlich aufbringen, wenn auch ganz anders, als von Esinencu gedacht. Da werden dem Publikum Geschichten erzählt, was ja erst mal nicht schlecht ist. Ärgerlich daran ist, dass sie am eigentlichen Skandal vorbeigehen. Der Theaterbesucher in Deutschland kann weder etwas dafür noch etwas daran ändern, dass die Wirtschaft in Rumänien darniederliegt. Er wird auch nichts an den Arbeitszuständen in der Logistik eines Internet-Warenanbieters in Deutschland ändern. Und schon gar nicht hat er irgendeinen Einfluss auf die Beschäftigung von ausländischen Erntehelfern in der deutschen oder finnischen Landwirtschaft. Die Logistik-Beschäftigten richten sich auf unwürdige Arbeitsbedingungen nicht ein, weil sie so gerne für das Unternehmen arbeiten, sondern weil sie Geld verdienen müssen. Seit Jahrzehnten kommen Erntehelfer nach Deutschland, weil sie für Knochenarbeit so viel Geld verdienen, dass sie damit für den Rest des Jahres ihre Familien in den Heimatländern über Wasser halten können. Und wenn Verbraucher glauben, sie könnten durch Boykotte irgendetwas ändern? Dann werden sie die Verelendung der Arbeitnehmer vorantreiben. Längst gibt es eindeutige gesetzliche Regelungen, die den unwürdigen Arbeitssituationen einen Riegel vorschieben können, Arbeitszeitgesetz und Mindestlohn sind hier nur Beispiele – und zwar europaweit.

Der Skandal ist das Totalversagen der Behörden, die für die Durchführung der Gesetze zuständig sind. Und die Ignoranz einer Regierung, bei der man nicht mal gemerkt hat, dass ein Wechsel stattgefunden hat. Ach doch, in Zukunft sollen Homosexuelle es leichter bei der Kinderadoption haben. Dass hier Staatsbedienstete, die dafür Steuergeld bekommen, ihrer Aufgabe nicht nachkommen und für die Einhaltung von Gesetzen sorgen, darüber müsste man öffentlich reden. Warum das Ordnungsamt nicht Fahrtenschreiber kontrolliert, auf den Feldern auftaucht und Stundenzettel nachprüft, sich vor Ort von den Arbeitszuständen überzeugt und nach Recht und Gesetz handelt, ist die eigentliche Frage. Wenn „politisches“ Theater, dann bitte differenziert. Effekthascherei und Rührseligkeit ist unfair dem Publikum gegenüber, anstatt zum Diskurs beizutragen.

Doriana Talmazan – Foto © O-Ton

Das ist in diesem Fall besonders schade, weil die Szenerie eigentlich wunderbar ist. Im Hintergrund sind Lichtpaneele angebracht, die laut Erzählung aus einem untergegangenen russischen Betrieb stammen. Davor gibt es Lkw-Scheinwerfer, die aus einem anderen, inzwischen geschlossenen KFZ-Betrieb stammen sollen. Und im Vordergrund gibt es drei Werkbänke, auf denen Werkzeuge und Mischpulte untergebracht sind, die nun ebenfalls laut Erzählung für die Sinfonie sorgen, weil Studenten sie „modifiziert“ haben. Das ist wirklich großartig gemacht, und die exzellenten Darsteller, die diese Werkzeuge überzeugend bedienen müssen, damit die Szenerie glaubhaft wird, sorgen für Spannung über mehr als anderthalb Stunden hinweg. Doriana Talmazan steht im Mittelpunkt, wenn sie die Geschichte von Corinna erzählt, während Artiom Zavadovsky die Nebenerzählungen glaubwürdig über die Rampe bringt. Kira Semionov konzentriert sich verstärkt auf die musikalische Darbietung in Form elektronischer Musik. Die angedrohte Lautstärke hält sich in Grenzen; ob man hier tatsächlich vor Aufführungsbeginn Ohrenstöpsel anbieten muss – na ja. Viel besser wäre ein Angebot eines Augenschutzes gewesen, der verhindert hätte, dass man die angeblich deutschen Übertitel lesen kann. Der Text ist eine einzige Peinlichkeit. Wer die englische Sprache beherrscht, hat an diesem Abend Glück, weil er auf die englischen Übertitel ausweichen kann.

Das Publikum applaudiert – und ist überrascht. Stocksteif stehen die drei Darsteller vor ihnen, mühsam verkneift sich Zavadovsky ein Lächeln, während die Zuschauer klatschen. Esinencu taucht gar nicht erst auf. Was ist das? Hat das Ensemble eine neue politische Korrektheit entdeckt? Ist es jetzt nicht mehr opportun, sich vor dem Publikum „unterwürfig“ in Form einer Verbeugung zu zeigen? Sind Kulturarbeiter jetzt von einem neuen Selbstverständnis besessen, dass es ihnen verbietet, sich vor dem Publikum zu verneigen? Bis heute war die Verbeugung eine der edelsten Gesten auf der Bühne. Ein Dankeschön an das Publikum, das bereit war, sich auf die gesamte Aufführung einzulassen. Ein Dankeschön für die Begeisterung, die aus dem Saal auf die Bühne schwappt. Wer sich zukünftig als Dienstleister auf der Bühne begreifen will, der sein Honorar überwiesen bekommt, darf sich nicht wundern, wenn der Vorgang mit der Überweisung erledigt ist und der Applaus entfällt. Ohne pathetisch werden zu wollen: Nie hat man sich dem Ende des Theaters so nahe gefühlt wie heute Abend.

Michael S. Zerban