O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Gert Weigelt

Aktuelle Aufführungen

Dekonstruktion der Romantik

SCHWANENSEE
(Martin Schläpfer)

Besuch am
8. Juni 2018
(Uraufführung)

 

Ballett am Rhein, Oper Düsseldorf

10.000 Karten sind verkauft, die Vorstellungen bis zum kommenden Sommer ausverkauft. Martin Schläpfers erstes Handlungsballett in neun Düsseldorfer Jahren wurde mit Spannung erwartet. Die Ankündigung, sich mit Schwanensee dem „Ballett aller Ballette“ in einer eigenen Choreografie widmen zu wollen, sorgte für gehöriges Rauschen im regionalen Blätterwald. Da ist der Erwartungsdruck groß und wirkt in die Compagnie hinein.

Dass der Chefchoreograf und Künstlerische Direktor des Balletts am Rhein Schwanensee in einer eigenen Sichtweise erzählen wollte, war im Vorfeld so oft zu hören, dass einem schon angst und bange werden konnte. „Ich wollte mit meinen Mitteln alles aus meinen Tänzerinnen und Tänzern – ihren Körpern und Psychen – herauslocken und bin mir bewusst, wie zerbrechlich eine solche Arbeit ist. Ich habe aber auch versucht, meinem Ensemble zu zeigen, wie berührend, schön und erfüllend es sein kann – neben unserem breiten zeitgenössischen Repertoire – auch die mit einem Schwanensee verbundenen Bereiche als Künstler zu entdecken“, sagt Schläpfer. Beides ist ihm nicht gelungen. Nachvollziehbar ist seine Idee, das Stück personell und in der Handlung so weit zu „entrümpeln“, dass der Kern der Geschichte deutlicher zutage tritt. Man kann sich durchaus darauf einlassen, dass nicht der königliche Hof im Vordergrund steht, sondern die Liebesgeschichte. Dann allerdings darf man auch eine Weiterentwicklung erwarten. Aber Schläpfer entwickelt nicht, sondern dekonstruiert. Behilflich ist ihm dabei Florian Etti, der für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet und zeigt, welche Bedeutung beide Bereiche auch im Ballett haben. Die Bühne bleibt im Wesentlichen leer. Im Hintergrund sind zunächst überdimensionierte Bilderrahmen mit schwarzem Inhalt zu sehen. Als diese weichen, sind zwei Kuben zu erkennen, die oben hängen und Wolkenbilder zeigen. Ein Fels oder vergrößerter Kiesel dient als Requisite. Später werden vor diese Wand hölzerne Elemente geschoben, die möglicherweise das Interieur eines Rittersaals repräsentieren und sich noch später in spiegelnde Wellblechwände verwandeln. Weitere Requisiten sind eine Bank, deren Sinn sich überhaupt nicht erschließt, und ein Stuhl, der wohl den Thron von Siegfrieds Mutter darstellt. All das wirkt weder sonderlich modern noch in irgendeiner Form der Geschichte verhaftet, sieht man vom Stuhl und vielleicht dem Kieselstein ab. Eine solche Ausstattung ist beliebig. Dass Kostüme auch im Ballett von Bedeutung sind, beweist Etti mit dem Gegenteil. Es muss gewiss nicht mehr das Tütü sein, und dass Siegfried und seine Mannen graue Anzüge bevorzugen, mag ihrer Fantasielosigkeit – oder der des Kostümbildners – geschuldet sein. Wenn allerdings die Tänzerinnen in langen Roben auftreten und Schwäne eher wie gerupfte Gänse daherkommen, stellt sich schnell Ernüchterung ein. Da bleibt selbst dann wenig von Romantik übrig, wenn die Gewänder mitunter halbtransparent erscheinen. Dass man das nicht so leicht erkennen kann, ist dem Licht von Stefan Bolliger zu verdanken, der sich in erster Linie darauf konzentriert, alles in gnädiges oder verschämtes Halbdunkel zu tauchen. Ja, das ist modern, taugt aber deswegen keinen Deut mehr. Wenn im dritten und vierten Akt das Licht so weit heruntergedimmt wird, dass die Figuren kaum mehr erkennbar sind, wird es ärgerlich.

POINTS OF HONOR

Musik



Tanz



Choreografie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



„In der Arbeit an Schwanensee fühlte ich mich nun viel freier. Ob ein Schritt zu klassisch oder nicht originell oder stimulierend genug sei, war für mich hier selten eine Frage, sondern vielmehr, ob er das transportiert, was ich erzählen möchte. Wie schaffe ich es, eine vollständig erlebte und erlebbare, nicht kodierte Bewegungssprache zu finden?“ Eine Antwort auf die rhetorische Frage von Schläpfer hätten sich die Besucher gewünscht. Die gezeigte Lösung allerdings ist entmutigend. Die über weite Strecken fehlende Präzision im Tanz mag dem Erwartungsdruck und der Uraufführung geschuldet sein. Die fehlende Eleganz im Abschluss von Figuren vor allem im ersten und zweiten Akt zeigen, dass der Choreograf nicht zu Ende gedacht hat. Aber bitte, in einer dreistündigen Aufführung wird es immer ein paar Schwachstellen geben. Versagt hat Schläpfer in der Dekonstruktion. Die meint das Aufbrechen von bisher Gezeigtem, um es einer Weiterentwicklung zuzuführen. Schläpfer aber entwickelt nicht weiter, sondern stumpft ab. Ob es der eher depressiv wirkende Siegfried ist, dem zudem die schauspielerische Begabung fehlt und ihn mithin auf das verpflichtet, was er kann, nämlich als Tanzpartner zu dienen, oder ob es die Emotionalität ist, die Schläpfer in seiner Choreografie geradezu verleugnet. An seiner Bewegungssprache, die vielfach eher an flatterndes Federvieh als an die Zärtlichkeit und Majestät von Schwänen gemahnt, perlt die Musik Tschaikowskys ab. Und eine Odette, die in ihrer Todesphase eher an ein vor die Wand geflogenes Huhn als an das schmerzende Ende einer überirdischen Liebe erinnert, besiegelt endgültig das fehlende Verständnis von dem, was Tschaikowsky und die Zuschauer wollten.

Foto © Gert Weigelt

Axel Kober hat es sich als Generalmusikdirektor nicht nehmen lassen, diese wunderbare Musik selbst zu dirigieren. Zumindest in der Uraufführung. In weiteren Vorstellungen wird das Aziz Shokhakimov übernehmen. Und wirklich arbeitet Kober mit den Düsseldorfer Symphonikern in weiten Teilen die Schönheiten der Ballettmusik heraus. Exzellent auch die Soli von Dragos Manza an der Geige, Doo-Min Kim am Cello und Sophie Schwödiauer an der Harfe. Aber was nutzt das alles, wenn im zweiten Akt plötzlich alle fünf Minuten eine Generalpause eingelegt wird? Gar nichts. Die 8.500 nachfolgenden Zuschauer dürfen sich an diesen Stellen auf gepflegte Langeweile einstellen und können sie, da besser vorbereitet, eventuell mit selbst mitgebrachter Lektüre überbrücken. Auf der Bühne verpassen sie an diesen Stellen nichts.

Für die tänzerische und musikalische Leistung bedankt das Publikum sich ausführlich, ohne sich dafür von den Sitzen zu erheben. Bravo- und Buh-Rufe für das Leitungsteam halten sich die Waage. Das Wunder ist ausgeblieben. Ein Choreograf, der mindestens neun Jahre lang kein Handlungsballett aufgeführt hat, kann ein komplexes Werk wie Schwanensee nicht auf Anhieb stemmen. In gewisser Weise ist das beruhigend. Zeigt es doch, dass Kunst von Können kommt und nicht von einer Position oder einem Ruf abhängig ist.

Michael S. Zerban