Kulturmagazin mit Charakter
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SCHAF SEHEN
(Juliane Hendes)
Besuch am
3. Juli 2024
(Uraufführung)
Die Wiederkehr des Kunstaktivismus, die Revitalisierung des Agitprop-Theaters, das wir gegenwärtig erleben, hat im Düsseldorfer Theaterkollektiv Pièrre.Vers seit Jahren einen regelmäßig liefernden Mitstreiter, man kann auch sagen Vorkämpfer. NRW-Spitzenförderung sowie zwei verlässlich die Bühnen stellende Plattformen, Düsseldorf-Festival und Asphalt-Festival, haben Pièrre.Vers den Rücken gestärkt. Man steht auf festem Boden. Und ist erfüllt von seiner Mission, „sich mit künstlerischen und teilweise auch aktivistischen Mitteln für eine demokratische Gesellschaft einzusetzen“. So Hausautorin Juliane Hendes in ihrem Programmheftmonolog zu Schaf sehen. Eine theatrale Verschwörungserzählung, mit der die heurige Asphalt-Festival-Ausgabe eine umjubelte Eröffnungspremiere erlebt.
Foto © Ralf Puder
Pièrre.Vers, leicht kann man sich überzeugen, hat sein Publikum. Eines, das treu mitgeht, mitmacht, mitlacht, auch wenn es im neuen Stück, abgesehen von bemühten Kalauern, nichts zu lachen gibt. Davon sowie vom Versuch, Publikum ins aktivistische Selbstverständnis hineinzuziehen, später mehr. Schlechterdings erstaunlich an der sich über fast zwei Stunden erstreckenden Marathon-Produktion, ist das Selbstbewusstsein, mit dem man sich in den Kampf wirft – um Worte, um Seelen. Dass Letztere im Prinzip unsere Seelen sind, um die es Pièrre.Vers geht, liegt auf der Hand. Das treue Schaf in rot, das mit geschlossenen Augen das Programmheft ziert, ist die Negativprojektion dafür. Auf der Bühne ist es die Seele von Sebastian alias Jonathan Schimmer, um die Zwillingsschwester Johanna ringt, gegeben von Anna-Magdalena Beetz. Am Ende stellt sich heraus: vergeblich. Sebastian hat so viel Müll im Kopf, dass er bei den Reichsbürgern landet, einer politischen Sekte, die vom Fortbestand des Deutschen Kaiserreichs ausgeht. Kennt man aus den Nachrichten.
Schaf sehen entfaltet sich als Stationendrama. Wie beim Golf zieht das Publikum mit den Spielern. Zu Beginn wie am Ende jeder Nummer ertönt kunstvoller Singsang in der Handschrift von Bojan Vuletić, der Mann für Komposition, Sounddesign. Unbegleitete Frauenstimmen locken uns arme Schafe zum nächsten Weideplatz. So geht es durch die Räume, die Susanne Hoffmann anfänglich karg, dann üppig ausstattet, was Philippe Waldecker mit wechselnden Lichtstimmungen aufgreift, verstärkt. Man hockt auf Stühlchen, auf Bänken und – taucht ein, genauer: wird eingetaucht in einen Malstrom aus, hätte man früher gesagt, Aberglauben, Ammenmärchen. Heute kursiert der gesammelte Schwachsinn rund um das ebenso geheime wie niederträchtige Treiben von CIA, von Mossad und von Aliens, die Politiker durch Echsenmenschen ersetzen, als so genannte Verschwörungserzählung. Demnach ist Angela Merkel eigentlich Hitlers Tochter, die Bundesrepublik eine GmbH, ist das Corona-Virus von Bill Gates in Umlauf gebracht worden. Kennt man, wenn nicht aus den Nachrichten, so doch als überrumpelnde, bei den gewöhnlichsten Anlässen mitgeteilte Offenbarungen in so genannten Freundes- und Bekanntenkreisen. Wusstest Du schon? – In diesem Sinn funktioniert auch die Schaf-sehen-Dramaturgie. Als ein kontinuierliches, nach Intensität wie Massivität sich steigerndes Besprechen des Publikums. Die Geschwindigkeit, mit der der Text aufgesagt wird, ist hoch, muss hoch sein, ist ja doch die übliche Praxis derjenigen, die Luft in Tüten verkaufen, also vorzugsweise parolisch unterwegs sind.
Foto © Nana Franck
Schon wenn es mit dem Aufzug nach oben geht, stellt sich ungutes Gefühl ein. Ausgesuchte Höflichkeit auf der einen Seite, auf der anderen sind die Aktivisten nicht sparsam mit Zurechtweisungen. Ach, Sie ziehen die Augenbrauen hoch! Was stattfindet, so viel spürt man, ist Manipulation, der Versuch, die Distanz einzureißen, mit der man sich gegenüber zudringlichen Verkäufern, in diesem Fall Verkäufern hanebüchener Meinungen, zu schützen versucht. Und doch – bereits bei der zweiten Station gelingt es. Es ist der schaurigste Moment des ganzen Abends. Ein Experiment am lebenden Objekt. Geplanter Zufall. „Inhaltlich“ geht es an der Stelle – wir sind beim Kern noch jeder Verschwörung angelangt – um „die Juden“. Wolfi, ein abstrus mit Perücke herumhampelnder Daniel Fries, baut sich vor einem Zuschauer auf, reicht ihm einen Zettel. Er soll vorlesen, was da draufsteht. Zögern. Und dann, tatsächlich, wird laut, wird theateröffentlich ein antisemitischer Text vorgetragen. Die kleine Sekunde des Nachdenkens hat nicht ausgereicht, um das Ansinnen abzuwehren. Publikum ist zum Komplizen geworden. So einfach geht das.
Womit sich ein Abgrund aufgetan hat. Als sei nichts gewesen, wird er übersprungen, übergangen. Noch ehe man mit seiner Verstörung klargekommen ist – Müsste das nicht besprochen werden!? – wird man von den fröhlich pfeifenden Hirten auch schon in Richtung einer in jeder Hinsicht gespenstischen Schlussstation getrieben. Einigermaßen ratlos stehen wir am Rand des Ackers der Landkommune Zur hellen Sonne. Mit Hacken, vormaschinell, wird das Feld bestellt. Man härtet sich ab. Thimotheus nimmt ein Kaltbad, wofür Alexander Steindorf sich mal nackig macht. Dann dürfen wir in die gute Stube schauen, das Reich von Magdalena, überzeugend gegeben von Julia Dillmann. Um den Tisch eine Versammlung von Aussteigern, denen das Bewusstsein bis zum Abwinken vernebelt ist. Die Mischung aus Gemütlichkeit und Verworrenheit grenzt an eine Schmerzerfahrung. Im Prinzip ist das ein Horrorszenario, der Bühnenbild gewordene Schlaf der Vernunft, aus dem Ungeheuer aufsteigen. Und tatsächlich. Wieder ist da der Wolfi. Mit großer Geste hängt er eine Landkarte des Deutschen Kaiserreichs auf. Es beginnt, einverständlich beobachtet von Moni alias Azizé Flittner, ein reichsbürgerliches Trommelfeuer. Und, zur Indoktrination auch hier wieder die Invektiven unter der Gürtellinie. Jetzt, spätestens, müsste man doch aufstehen, gehen, denkt man sich. Dann denkt man, dass Leben im spätkapitalistischen Realismus ja nicht immer angenehm ist. Warum sollte es im Theater, das diese irre Welt abbilden will, anders sein?
Wie das alles endet? – Nun, das Regie-Dramaturgie-Kollektiv um Christof Seeger-Zurmühlen, um Juliane Hendes, wird sich das auch gefragt haben. Wie kommen wir raus aus der Nummer? – Die Antwort fällt klassisch aus: Deus ex machina. Wenn auf der Bühne alles und jedes in heilloser Verwirrung geraten ist, kann nur der Eingriff von außen weiterhelfen. Vormals wurden dazu aus dem Schnürboden die Götter herabgelassen. In Schaf sehen ist es der abgedrehte Reichsbürger-Apostel, der sein Wolfsfell abwirft, um einen pädagogisch wertvollen Demokratie-Monolog zu halten, wie er, im Prinzip, aus noch jeder Broschüre der Zentrale für politische Bildung montiert werden kann. Wie es begonnen hat, so endet Schaf sehen. Als Verlautbarungs-Theater.
Georg Beck