O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Dirigent bringt Opfer

LE SACRE DU PRINTEMPS
(Igor Strawinsky, Nico Muhly)

Besuch am
31. Oktober 2022
(Premiere am 28. Oktober 2022)

 

Tonhalle, Düsseldorf

Was passiert denn eigentlich, wenn man Musik der Gegenwart mal im großen Stil angeht? Bleibt dann der Saal leer? Die Düsseldorfer Tonhalle ist überproportional gut besucht, als sie das Risiko eingeht. „Natürlich“ ein wohlkalkuliertes Risiko. Gleich vier Orchester haben ein halbstündiges Werk bei dem Komponisten Nico Muhly in Auftrag gegeben. Das New York Philharmonic, das Orchestre de Paris, das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra und die Düsseldorfer Symphoniker haben sich unter der Maßgabe zusammengeschlossen, dass Muhly das Werk den Schwestern Labèque widmet. Katia und Marielle sind Legenden. Michael Becker, Intendant der Tonhalle, bezeichnet sie als „Weltmarktführer in Sachen Klavierduo“. Die beiden, die aus dem französischen Bayonne stammen, sind heute 70 und 72 Jahre alt. Ansehen kann man ihnen das auf der Bühne nicht.

Nico Muhly ist fast halb so alt wie die beiden Schwestern. Genaugenommen wurde er 1981 in Randolph im US-amerikanischen Bundesstaat Vermont geboren. Sein Kompositionsstudium absolvierte er an der Juilliard School. Über 100 Werke werden von ihm bereits verzeichnet. Neben den Orchesterwerken gibt es kaum ein Genre, das Muhly, der heute in Chinatown in New York lebt, nach seinem Master nicht bedient. Geprägt haben ihn dabei sicher die ersten sechs Jahre nach dem Studium, die er als Programmierer, Editor und Dirigent für Philip Glass verbrachte. Nun wird also sein Stück In Certain Circles – in gewissen Kreisen – zum ersten Mal von den Düsseldorfer Symphonikern präsentiert, nachdem es bereits im Juli vergangenen Jahres in Paris uraufgeführt wurde. In den drei Sätzen L’enharmonique, Sarabande & Gigue und Details emerge bezieht er sich auf Musiken von Jean-Philippe Rameau, wobei er bewusst vermeidet, ihn zu zitieren. Ebenso gibt es nicht den einen oder die Höhepunkte, auf die das Werk zusteuert, vielmehr ist es ein Mäandern zwischen Gefühlswelten. Im überaus farbenreichen Spiel der Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Adrien Perruchon fällt auf, dass die Passagen, die die beiden Klaviere zu absolvieren haben, in das Orchestergeschehen verwoben sind. So entsteht eine komplexe Dichte, ohne die Faszination für das vierhändige Spiel vollständig aufzuheben. Abrupt endet das Stück, nachdem es die Menschen im Saal gut unterhalten hat. Und ein Publikum zu begeistern, ist ja schon mal eine Leistung. Von „monumental“, wie im Programmheft apostrophiert, ist Muhly dann aber schon noch ein Stück weit entfernt. Das zeigt schon die Zugabe der Schwestern Labèque. Absolut brillant bieten sie die Four Movements von Philip Glass dar. Während die Zuschauer noch überschwänglich applaudieren, springt eine Sitznachbarin auf und drängt zum Ausgang. „Ich muss wissen, was die gespielt haben“, sagt sie der Freundin. „Das hat mich gerade total angefasst.“ Damit bleibt sie insbesondere bei dieser Interpretation nicht allein.

Im zweiten Teil des Abends steht dann tatsächlich ein monumentales Werk auf dem Programm. Leider wird das Hauptaugenmerk bei Aufführungen des „Frühlingsopfers“ immer noch auf den „Theaterskandal“ gelenkt, der bei der Uraufführung am 29. Mai 1913 im neu erbauten Théâtre des Champs-Élsysées stattfand. Vielleicht ist auch einfach ein wenig Neid dabei. Überfüllte Konzertsäle mit hoch emotionalisierten Besuchern, die sich auf neue Musik stürzen wie Geier auf das Aas. Das müsste es noch mal geben. Igor Strawinsky jedenfalls unternahm nichts anderes, als was von ihm als gutem Komponisten erwartete wurde. Er brach mit herkömmlichen Hörgewohnheiten, um den Menschen etwas vollständig Neues zu bieten. Bis heute hat Le Sacre du Printemps in einer guten Interpretation nichts von seiner Sogwirkung verloren. Und die Besucher der Tonhalle kommen heute Abend in den Genuss einer außergewöhnlich guten Darbietung.

Wenn der Dirigent am Konzertabend eine Partitur braucht, hat er seine Hausaufgaben nicht gemacht, hat irgendjemand mal gesagt. Es war zwar nicht Adrien Perruchon, aber er scheint die Auffassung zu teilen. So hat er genügend Platz auf seinem kleinen Podium, mit ganzem Körpereinsatz die Musiker zu Spitzenleistungen zu motivieren und den Zuschauern eine Aufführung zu bieten, die sie bis in die Haarspitzen fesselt. Perruchon lässt keinen Musiker aus dem Blick, er reitet die Attacken der Streicher mit ebenso wie er mit einem Handstreich die Bläser zu mehr Impetus bringt. Aus dem Nichts fliegen die Hände nach oben, um im nächsten Moment das Piano einzuleiten. An diesem Enthusiasmus haben die Musiker sichtlich Spaß, sitzen ganz vorn auf der Stuhlkante. Und auch die Besucher lassen sich in den Sog der Geschehnisse um die Frühlingsweihe ziehen. Neun Jahre lang hat die Tonhalle gebraucht, um einen Dirigenten zu finden, der über genügend Charisma verfügt, Strawinskys Meisterwerk in der Qualität wieder einmal aufzuführen. Das ist nun gelungen. Perruchon weiß nicht nur, das Orchester zu packen, sondern auch, seine Leistungen zu würdigen. Und so applaudiert er fleißig mit dem Publikum mit, ehe er sich selbst zu Recht feiern lässt. Es ist einer der großen Abende in der Tonhalle.

Michael S. Zerban