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Öffentlicher Kuss-Marathon

ROMANTIC AFTERNOON *
(Verna Billinger, Sebastian Schulz)

Gesehen am
6. Mai 2021
(Premiere 2011/Stream)

 

Kunsthalle Düsseldorf

Es ist ja gar nicht verboten, ohne Maske über die Straße zu gehen. Man muss halt nur gefeit sein vor den bösen und misstrauischen Blicken der Mitbürger, wenn man in der Öffentlichkeit sein Gesicht so nackt zeigt. Längst bleiben liebgewonnene Menschen, die man noch vor anderthalb Jahren wie selbstverständlich in den Arm nahm, wenn man sich begegnete, in zwei Metern Abstand von dir stehen, als gäbe es eine unsichtbare Mauer zwischen euch. Und es erscheint ganz normal. Was klingt wie der schlechte Anfang eines Horror-Sci-Fi-Romans, der in irgendeiner Schundroman-Reihe bei Bastei Lübbe erschienen ist, ist in Deutschland Wirklichkeit. Es ist das soldatische Prinzip, Menschen Nähe und Emotionen abzutrainieren, um sie darauf vorzubereiten, andere Menschen ohne Gewissenskonflikt zu töten, was die Bundesregierung seit 15 Monaten anwendet. Und es trägt Früchte. Der Umgang miteinander wird rauer.

In dieser Situation greift die Compagnie Billinger & Schulz ganz tief in die Archiv-Schublade. Da finden Verena Billinger und Sebastian Schulz den Mitschnitt einer Aufführung, die vor zehn Jahren Premiere in der Kunsthalle Düsseldorf hatte. Damals lief die Kamera mit, ohne dass jemand daran geglaubt hätte, jemals eine solche Konserve in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aus heutiger Sicht ein Skandalfilm. Nicht, weil Kameraführung und Filmqualität so miserabel sind, sondern weil sich in diesem Film Menschen in der Öffentlichkeit küssen. Ohne irgendwelche Virentests, ohne Impfungen, ohne Abstand und ohne Masken im Gesicht küssen sich sechs Tänzer 53 Minuten lang ununterbrochen. Ja, heute spricht man da eindeutig von einer Corona-Leugner-Party und die strafrechtlichen Konsequenzen, wenn die Polizei eine solche Veranstaltung aushebt, sind im günstigsten Fall extrem teuer. Einen solchen Film kann man überhaupt nur verstehen, wenn man ihn als historisches Dokument begreift. Erotisch ist daran aus heutiger Sicht nichts mehr.

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Aber wer einen historischen Film guckt, muss ihn aus der Perspektive der Entstehungszeit betrachten, um ihn zu verstehen. In einem völlig unbestimmten Raum an einem Nachmittag treffen sich die drei Tänzerinnen Jungyun Bae, Tümay Kılınçel und Juli Reinartz sowie die drei Tänzer Ludvig Dase, Robert Redmer und Uri Turkenich in Alltagsklamotten, ziehen die Schuhe aus. Scheinwerfer tauchen die Szene in grelles Licht, dass sich nur selten ändert. Stille im Raum. Vor zehn Jahren gab es noch diese Berührungsängste des zeitgenössischen Tanzes mit Musik. Auch die werden Billinger & Schulz später konterkarieren. Kein Mensch sprach vor eben diesen zehn Jahren von einer unbedingt notwendigen Diversität, weil es dafür noch keine Gelder gab. Damals galt die Devise, dass jeder nach seiner sexuellen Präferenz glücklich werden möge, ohne den anderen damit zu belästigen. Das bildet die Compagnie an diesem Abend ab. Schwul, lesbisch, bisexuell und, ach ja, heterosexuell stehen gleichberechtigt nebeneinander. Als das Normalste auf der Welt. Und schon damals kann es niemanden auch nur ansatzweise beeindrucken. Weil es um menschliche Bedürfnisse ging, ehe gut bezahlte Funktionäre in den Kampfmodus wechselten, um die Normalbevölkerung mit irgendwelchen LGBTQ-blablabla-Gruppen zu terrorisieren. Die Akteure treten aneinander heran, beginnen sich zu küssen. Wechseln beliebig die Partner. Lassen sich auf Nähe ein, beginnen Tänze, ohne die Münder voneinander zu lösen.

Entweder können die Tänzer nicht sonderlich gut küssen, oder sie wollen es nicht. Sexuelle Erregung stellt sich selbst aus voyeuristischer Sicht nicht ein. Vielmehr belustigen das Publikum ungewöhnliche Stellungen, die sich aus der Schwierigkeit ergeben, den Kuss aufrechtzuerhalten. Als sich die Tänzer zwischenzeitlich voneinander trennen, gehen sie in Kussmaul-Atmung über. Na gut. Zum Abschluss gibt es dann doch noch Fred vom Jupiter, einen Song aus der Zeit der Neuen Deutschen Welle, der 30 Jahre später immer noch genügend Schwung mitbringt, um das Publikum zu begeistern. 1981 brachte es Andreas Dorau damit zu einigem Ruhm. Der Zusammenhang wird nicht unmittelbar deutlich, aber die Gruppentanz-Einlage erlöst aus der Kuss-Situation, auch wenn es noch ein paar letzte Küsse in der Choreografie gibt.

Historisch betrachtet, war es sicher eine aufregende Choreografie, in der mal schlicht das Machbare gezeigt wurde. Dafür sprechen die zahlreichen Geldgeber. Heute schaut man sich einen alten Film an und schwelgt in Nostalgie. Die so genannte Freie Szene zeigt in ihrer minimalen Ausstattung ungewöhnliche Tanzansätze, die dann tatsächlich zu keiner weiteren Entwicklung führten. Dass Billinger & Schulz sich trauen, solch olle Kamellen aus dem Archiv zu holen, ist allerdings erstaunlich. Erstaunlich selbstbewusst. Dafür gibt es einen Glückwunsch.

Auch an den beiden folgenden Tagen wird der Film noch gezeigt.  Man kann ihn sich kostenlos anschauen, muss sich allerdings hier anmelden.

Michael S. Zerban