Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
PROMETHEUS DIS.ORDER
(Charles Ives, Ludwig van Beethoven)
Besuch am
3. September 2021
(Uraufführung)
Es ist schön, wenn die Konzert- und Theaterhäuser endlich begreifen, dass der Abend ihrer Gäste zu Hause beginnt und nicht erst, wenn das Licht im Saal erlischt. Lange genug hat es gedauert. Die Tonhalle Düsseldorf gibt hier ein gutes Beispiel, wenn auch noch nicht ganz ausgereift. Da erhält man als Besucher wenige Minuten vor Abfahrt eine E-Mail, in der es Informationen zum bevorstehenden Abend gibt. Neben dem Inhalt der Aufführung und den Beteiligten finden sich endlich auch Hinweise zur allgemeinen Verkehrssituation und zur Anreise. Da hat wirklich endlich jemand verstanden. Warum die Mail von der Konzertkasse kommt – man sucht erst mal panisch nach dem Ticket, das man möglicherweise noch schnell ausdrucken muss – kann man noch mal überlegen; könnte ja auch vom Besucherservice kommen. Und es in einer Stadt, die gerade mit Macht versucht, die Verkehrsinfrastruktur für Autos zu zerstören, mit dem Hinweis zu belassen, doch den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, weil dann ja auch die Konzertkarte als Fahrkarte gilt, kann man sicher noch verfeinern. Ein Blick auf den Parkplatz würde schnell zeigen, dass ein Tipp, wo man sein Auto abstellen kann, weil die Parkplätze am Rheinufer gerade durch eine Baumaßnahme eingeschränkt werden und eher aussehen wie eine Camping-Mobil-Messe, hilfreicher ist. Aber die Richtung stimmt. Und die weist an diesem Abend zu einer Veranstaltung, bei der sich die Tonhalle am Gesamtkunstwerk Musiktheater versucht.
Eigentlich ist die Uraufführung des heutigen Abends schon anderthalb Jahre alt. Dank vernünftiger Absprachen konnte sie allerdings über den Lockdown gerettet werden und nun endlich stattfinden. Die Überraschung ist groß. Selbst Intendant Michael Becker verweist in seiner Ansprache darauf, dass die heute aufzuführende Ballettmusik Die Geschöpfe des Prometheus von Ludwig van Beethoven ein Mittelmaß kaum übersteige. Warum also bitte soll sich das Publikum das antun? Weil die Tonhalle Nick und Clemens Prokop beauftragt hat, dieses Werk in ein Gesamtkunstwerk Musiktheater zu gießen. Und so heißt der Titel des Abends auch nicht Die Geschöpfe des Prometheus, sondern Prometheus dis.order. Es scheint sich also um einen kranken Prometheus zu handeln. Zur Erinnerung: Prometheus stahl den Göttern das Feuer, um damit zwei aus Lehm geformte Figuren zum Leben zu erwecken. Über seine Strafe braucht man hier kein Wort zu verlieren, weil die nicht Gegenstand des Abends ist. Die Gebrüder Prokop sehen in ihm einen Mann mit bipolaren Störungen.
Bipolare Störungen sind eine psychische Erkrankung, die man früher manisch-depressive Störung nannte. Sie ist gekennzeichnet durch wechselnde Phasen extremer Gefühlszustände. Zu Tode betrübt und himmelhochjauchzend nannte man das, ehe die Medizin sich dieser Zustände annahm. Und genau diese Gefühlszustände sind Gegenstand der Aufführung, die aus einer mittelmäßigen Ballettmusik ein hochspannendes Werk machen sollen. Ein Konzert zu inszenieren ist bis heute eine Herausforderung. In der Tonhalle sind zwei Gaze-Stoffe an der Decke aufgehängt, die eine Projektionsfläche bieten. Hinter dem Orchesterpodium ist eine Bühne aufgebaut, die nach hinten von einer Rippenwand abgegrenzt wird, auf der eine Lichtorgel spielt.
Foto © Susanne Diesner
Die Düsseldorfer Symphoniker spielen unter der schwebenden Leitung von Alexandre Bloch Charles Ives‘ The Unanswered Questions, ein rund zehnminütiges Stück langgezogener, meditativer Klänge mit dissonanten Bläser-Einsprengseln. Schön, eindrucksvoll und reicht dann auch für einen Abend. Drei Tänzer vom Ballett der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg betreten die hochgelegene Bühne hinter dem Orchester, allesamt in schwarze Ganzkörper-Trikots gekleidet. Bloch beginnt mit dem Beethoven-Stück. Ehe es zur vollen Entfaltung kommt, mischt sich Stefan Wilkening mit seinem ersten Text über das Raum-Mikrofon ein. Der Sprecher selbst wird an diesem Abend nicht sichtbar, obwohl eigentlich nichts dagegenspricht. Die Texte beschäftigen sich mit den Empfindungen von Menschen mit bipolaren Störungen aus deren Sicht in poetischem Klang. Durchgängig wird er nun in die Musik einfallen, die Bloch mittlerweile tänzerisch und hoch kommunikativ leitet, bis das Blut aus den Adern tritt, das Leben bedeutet. Warum die Überschriften zu seinen Texten auf Englisch formuliert werden müssen, erschließt sich nicht im Mindesten. Das ist albern.
Die Ereignisse überschlagen sich. Während die Lichtorgel die Rückwand bespielt, sind auf den Gaze-Stoffen Projektionen zu sehen, über deren Qualität man diskutieren kann, das Orchester geht in die Vollen und die Tänzer bewegen sich. Das ist zu viel. Überbordend ist hier wohl das richtige Wort. Wer allerdings auf die Tänzer schaut, die den Anweisungen der Nachwuchs-Choreografin Virginia Segarra Vidal folgen, wird enttäuscht. Die Ballettmusik von Beethoven ist nicht so schlecht, dass die Tänzer beständig reglos verharren, sich auf dem Boden schlängeln und ihren Fingern folgen oder ein paar Kampfhandlungen andeuten. An den Tänzern liegt es nicht. Marjolaine Laurendeau, Philip Handschin und Michael Foster wirken permanent unterfordert. Vidal verschenkt viel Potenzial. Verschiedene Einsprengsel elektronischer Musik stören nicht, wirken am Ende sogar bereichernd. Und dann ist es auch gut. Aber die Besucher entkommen nicht, ohne sich noch einmal Ives‘ Musik anzuhören. Nicht noch ein paar Takte zum Schluss, das hätte doch gereicht, sondern noch einmal das ganze Stück.
Da waren die Erwartungen wohl zu hoch. Es ist legitim, alte Werke um neue Elemente zu bereichern, wenn sie dadurch gewinnen. Gewonnen haben hier die Regisseure. Ein angeblich mittelmäßiges Werk nicht. Das hätte Bloch mit den Düsseldorfern Symphonikern ordentlich gepuscht. Ganz ohne Brimborium.
Ein Lob gilt dem nahezu fehlerfreien Programmheft, was ja längst nicht mehr selbstverständlich ist, in dem nicht nur Clemens Prokop seine Sicht zum Stück schlüssig erläutert, sondern auch die gesprochenen Texte abgedruckt sind.
Das maskenbehaftete Publikum applaudiert ausgiebig.
Michael S. Zerban