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Aktuelle Aufführungen
In die Oper gehen und das Orchester auch sehen, nicht nur hören? Ein frommer Wunsch. Das heißt: Eigentlich haben wir diesen Wunsch gar nicht mehr. Wir kennen nichts anderes. Dass das Opernorchester unsichtbar ist, dass es in der Vertiefung zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwindet, halten wir für naturgegeben. Was – natürlich – ein Fehlschluss ist. Die Augen dafür öffnet jetzt eine gegen die Konvention sich positionierende Aufführung von Orfeo ed Euridice, eine in Vergessenheit geratene, weil zwischen Monteverdi und Gluck zerriebene Haydn-Oper, zu erleben in der Düsseldorfer Tonhalle im so genannten halbszenischen Gewand. Weiß lackiert, videoilluminiert der Laufsteg für die Solisten vor dem Orchester, die Damen und Herren von Chorwerk Ruhr hinter dem Orchester – fertig das Arrangement. Fürs Publikum im Mendelssohn-Saal zum Greifen nah, zum Jubeln schön. Insbesondere, weil schöne Stimmen, weil ein präsentes Orchester, weil ein omnipräsenter Orchesterchef in bester Musizierlaune alle anstecken, Inszenierungsschwächen, -ungereimtheiten kompensieren.
Die von Adam Fischer, vom Principal Conductor der Düsseldorfer Symphoniker initiierte Versuchsanordnung, kommt mit klarer Botschaft. Sie sagt: Es geht auch anders, es geht auch ohne Graben. Ausgehoben hatte ihn übrigens die Münchner Oper, als sie sich 1865 daran machte, erstmals Tristan und Isolde von Richard Wagner erfolgreich auf die Bühne zu bringen, wozu sie, um die Sänger hörbar zu halten, die Klangmassen abdämpfen musste. Irgendwann sind alle nachgezogen und die schönsten Momente eines Opernbesuchs, der Blick auf die ausführenden Musiker, auf den Dirigenten, war dahin.
Foto © Anne Schäfer
Jetzt sind sie wieder aufgetaucht. Was dabei den auf die Tonhallenbühne gehievten Opernkomponisten Joseph Haydn angeht, so hätte dieser sich über das selbstverursachte Verschwinden der Musiker in der Versenkung mit Sicherheit verwundert gezeigt. Gelinde gesagt. Ausgerechnet seine Musik in den Untergrund verbannt? Dorthin schicken Haydn und sein Librettist Carlo Francesco Badini exklusiv den mythischen Sänger Orpheus, auf der Suche nach seiner geliebten Eurydike, womit wir in jener unsterblichen Geschichte sind, die einfach zu schön ist, die als Drama um Liebe und Tod zu menschlich ist, um vergessen zu werden. Ein Stoff, aus dem Oper ist. Steinerweichende Gesangskunst gewährt Zugang zum Hades. Orfeo führt Euridice vom Tod ins Leben zurück. Und weil er zu sehr, weil er zu viel liebt, verliert er sie ein zweites Mal.
Geburtshelfer dieses konzertanten Haydn ist mit Adam Fischer ein passionierter Opernfreund und -kenner im Allgemeinen, ein Haydn-Freund und -kenner im Besonderen. Im publizistischen Vorfeld hatte Fischer, vorab in der Rheinischen Post, einen flammenden Artikel lanciert. Unter der Überschrift Kein Sushi mit Ketchup, bitte! plädiert er „für eine neue Aufführungspraxis der Opera Seria“, jener Opernform des 17. und 18. Jahrhunderts, in der Rezitative eine Geschichte erzählen und Arien diese Geschichte reflektieren. Moderne Opernregisseure haben Probleme damit, sagt Fischer. Sie mögen es nicht, wenn die Handlung stillsteht, wenn die Bühne allein der Musik gehört, weswegen sie mit allen möglichen „Aktionen“ die Szene aufmischen, mit ihren Regieeinfällen zustellen, also Ketchup zum Sushi geben. Fischer empfindet diese Praxis, wie er betont, als „Verrat“ an der Oper. Seine Schlussfolgerung ist klar: Der Musik wieder Raum bei der Opernaufführung bieten. Das Orchester aus dem Graben zurück auf die Bühne bringen. Den inszenatorischen Alleingängen Grenzen ziehen. – Geht das?
Im Fall dieser Haydn-Oper hat es, mit Einschränkung, funktioniert. Anders als Gluck, der das glücklich-unglückliche Paar einem Happy End entgegenführt, lassen Haydn und Badini den Helden nach dem zweiten Verlust den Tod finden, ganz im Geist einer stoischen Sterben-Lernen-Philosophie. Auf der Düsseldorfer Konzertbühne stirbt der polnische Tenor und Barockspezialist Krystian Adam. Seinen Nachnamen Krzeszowiak hat der gern gesehene Gast auf praktisch allen Opernbühnen der Welt irgendwann weggelassen. Dass Adam zehn Jahre in Mailand studiert hat, ist seiner italienischen Diktion sehr entgegengekommen. Unterm einfühlsamen Dirigat des anderen Adam erlebt man eine makellose Aussprache und eine Stimme mit sprichwörtlich tenoralem Schmelz, genial für den jungen Liebhaber, der er ist.
Auf gleichem Ohrenweiden-Niveau singt mit Emöke Barath eine ungarische Sopranistin, der man beim steten Höhenflug ihrer ebenfalls noch jungen Karriere bewundernd zusehen kann. Dazu gehört als weitere Station, an der Seite der beiden Adams, auch ihre Düsseldorfer Euridice. Was immer diese Barath in ihrer umfänglichen Partie anfasst, sitzt, hat Form und – Glanz. Ihre Koloraturen sind unangestrengt, unaufgesetzt.
Foto © Anne Schäfer
Ein weiterer Glücksfall dieser Aufführung ist ein klassischer Einspringer in letzter Minute. Für den erkrankten Michael Nagy steht in der Szene, aufrecht wie ein Lineal, ein Ensemblemitglied der Deutschen Oper am Rhein. Der Blick des jungen Sängers Beniamin Pop in die Noten wie regiegewollt. Sein durchdringender Bass transportiert Erhabenes, Geerdetes, was wir von einem Unterwelt-Herrscher Plutone, einem nach „Vendetta!“ verlangenden Eurydike-Vater Creonte erwarten.
Im schlanken Sopran von Alicia Ano schließlich, einem musikalischen Multitalent, hat dieser Orfeo einen Genio, einen unterweltkundigen Geist, der quirlige Unbekümmertheit ins Spiel bringt. Ein freilich unnötiger Regieeinfall der ansonsten mit „Aktionen“ weitgehend zurückhaltend operierenden Birgit Kajtna, verlangt von Ano respektive Genio, den gerade schmachtend Hingestorbenen Orfeo aufzurütteln. Plötzlich sind alle auf den Beinen, bringen Partystimmung auf die Bühne. Auch der Chor macht mit, engagiert, wie schon während der gesamten Aufführung zuvor. Chorwerk Ruhr, es sei nicht vergessen, das zu betonen, ist in Nordrhein-Westfalen mittlerweile das erste Ensemble für Aufgaben wie diese. Von Alexander Lüken sorgfältig einstudiert, ist die Formation stimmlich wie szenisch in jedem Moment auf der Höhe. Ein Gewinn für diesen Haydn.
Dass die Fäden der Regie am Ende irgendwie aus der Hand gleiten, hat wohl mit einem untergründig wirkenden Happy-End-Drang zu tun, obwohl gerade das den Autoren, dem Komponisten wie dem Librettisten, ganz fern liegt. Dieser Orfeo, im vollen Titel übrigens L’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice, ist näher an Wagner, als es die Regie von Birgit Katjna wahrhaben will. Die destruktive Seite der freigesetzten Emotionalität wie weginszeniert, das libidinös in den Tod Treibende wird einem zum „Papa“ verniedlichten Opern-Komponisten Haydn einfach nicht zugetraut. Nach seinem Bühnentod bekommt Orfeo seine Bühnenauferstehung, wozu der im Orchester entfesselte Meeressturm überhaupt nicht passen will, in dem die Bachantinnen als Strafe für den Orfeo gereichten Gifttrank untergehen. Ein Schluss, der die Aufmerksamkeit von der Musik abzieht. Konterkariert damit die von Adam Fischer doch so vehement vorgetragene ketchupfreie Dramaturgie, die er am Pult glaubwürdig einlöst, seine Symphoniker geschmeidig durch alle dynamischen Fein- wie Freiheiten, alle Tempiwechsel führt. Und die warten nur darauf, ziehen mit.
Dass man diesen halbszenischen Orfeo als halbgelungen einstufen darf, ist nicht weiter tragisch. Adam Fischer, Glücksfall für das Musikleben in Düsseldorf, will, wie man hört, seine ganz persönliche Opernreform weitertreiben.
Georg Beck