O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Surreale Momente

MARLON BÖSHERZ & THOMAS HUY
(Marlon Bösherz, Thomas Huy)

Besuch am
16. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Künstlerverein Malkasten, Jacobihaus, Düsseldorf

Fragt man einen Düsseldorfer nach dem Malkasten, wird der einem vermutlich den Eingangsbereich beschreiben, der stilistisch an das Bauhaus erinnert. Er wird einem erzählen, dass sich dahinter ein großzügiges Treppenhaus befindet, von dem im Erdgeschoss Räume für Gastronomie und im Obergeschoss ein großzügiger Saal abgehen. Damit hat der Düsseldorfer sogar ein bisschen Recht. Und doch beginnt die Geschichte ein wenig anders.

1747 erwarb der Kommerzienrat Johann Conrad Jacobi ein Grundstück im Düsseldorfer Stadtteil Pempelfort. Er ließ dort ein von einem Park umgebenes Gut errichten, das damit in unmittelbarer Umgebung zu seiner Zuckerfabrik lag. Keine 20 Jahre später übernahm Sohn Friedrich Heinrich die Fabrik, zog sich alsbald aus den Handelsgeschäften zurück und verwandelte gemeinsam mit seiner Frau Helene Elisabeth das Gut in ein Zentrum des Geisteslebens seiner Zeit. Diderot, Goethe, Herder, Wieland, Klopstock oder die von Humboldts verkehrten hier regelmäßig. 1867 wurde neben dem Jacobi-Haus ein Fest- und Gesellschaftshaus errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden schwere Kriegsschäden am Jacobi-Haus behoben, das Gesellschaftshaus jedoch 1951 durch einen Neubau ersetzt. Verantwortlicher Architekt war Helmut Hentrich. Und so unterscheidet man heute das repräsentative Hentrich-Haus vom historischen Jacobi-Haus, die beide eine Einheit vor dem Malkasten-Park bilden.

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Eigentlich wird das Jacobi-Haus bevorzugt an Gesellschaften vermietet und trägt damit dazu bei, dass das Anwesen im Besitz des Künstlervereins Malkasten auf gesicherten finanziellen Füßen steht. Heute allerdings steht es ganz im Zeichen der Kunst. Denn dienstags ist im Malkasten Vereinstreff. Der wird vom Vorstand organisiert, und regelmäßig organisieren Vorstandsmitglieder Veranstaltungen, die für Mitglieder und interessierte Bürger gleichermaßen zugänglich sind – in der Theorie. Aljoscha Gößling ist Vorstandsmitglied seit 2022, Aktionskünstler, Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie und hat im Malkasten-Park einen Pavillon errichtet, der repräsentativ für seine derzeitige künstlerische Entwicklung steht, nämlich neue Räume zu schaffen, in denen er andere Künstler zusammenführen kann. Dementsprechend nimmt er heute nicht nur die Rolle des Gastgebers ein, der die Gäste gleich an der Haustür empfängt, sondern im weitesten Sinne auch die eines Regisseurs.

Marlon Bösherz, 1992 in Berlin geboren, ist ein Künstler mit vielen Talenten und Kommilitone von Gößling. Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte in Essen begann er 2015 das Studium der Freien Kunst an der Düsseldorfer Kunstakademie. Zunächst Schüler von Stefan Kürten, ist er seit 2019 in der Klasse von John Morgan und Assistent von Durs Grünbein. Seine Arbeiten sind genreübergreifend. Malerei, Zeichnung, Objektkunst, Musik sind Bestandteile seines Lebens, das er selbst gern als Gesamtkunstwerk gestaltet. In das Jacobi-Haus hat Gößling ihn zu einer poetischen Lesung der besonderen Art eingeladen. 2019 lernte Gößling den Bassbariton Thomas Huy anlässlich einer Opernveranstaltung kennen. Nun ist es ihm endlich gelungen, die beiden in einer gemeinsamen Aufführung zusammenzubringen. Und das an einem Ort, der, wie von ihm erwartet, seinen ganz besonderen Zauber entfalten wird.

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Das Goethe-Zimmer liegt im Erdgeschoss, eingerahmt von Bibliothek, die auf eine Terrasse und damit in den Park hinausführt, und Foyer, von dem eine Treppe unter anderem zum Jacobi- und Schadow-Zimmer im Obergeschoss leitet. Der Raum mit dem berühmten Dichternamen ist in Halbdunkel getaucht. Vor etlichen Stuhlreihen ist ein quadratischer Tisch aufgebaut, auf dem eine Lampe und ein Mikrofon auf den Dichter warten. Bösherz betritt den Raum, verlässt ihn aber gleich darauf wieder, weil nicht sofort Ruhe eintritt, um sich ein Glas Wein zu holen, ehe er tatsächlich seine Lesung beginnt. Die Disziplinierungsmaßnahme wirkt zwar im Saal, ärgerlich ist, dass in den Außenräumen weiter Unterhaltungen und Glasgeklapper zu hören sind. Aber Bösherz beginnt die Lesung aus seinem Buch Traumverloderungen – Münchner Treppenlichter. Seelische Zustandsbeschreibungen oder Momentaufnahmen, die poetisch in kosmischen Zusammenhängen erklingen. Tiefgänge in ungewöhnlichen Wortfindungen, die zeitlos gültig sind und überflüssige Postmodernität aussparen. Gern lassen sich die Besucher in den Bann der Gedankengänge ziehen, auch wenn die Akustik trotz des Mikrofons dumpf und damit pathetischer klingt, als es dem Vortrag nutzt. Nach einer Viertelstunde ist aus der Ferne Gesang zu hören, der sich in den folgenden Minuten allmählich nähert. Improvisierte Vokalisen, die Huy den Worten des Dichters annähert, zunächst ohne einen Zusammenhang herstellen zu können.

Plötzlich steht der Sänger im Raum, unspektakulär, ja, beinahe unbemerkt ist er eingetreten, um die Verbindung zum Dichter herzustellen, indem er seinen Text singend vorwegnimmt. Ein Gänsehautmoment. „Ich kenne dich, ich kenne deine Augen, wir wandelten in dieser Verbindung. Wir ließen uns …“, beginnt Huy das Wiedersehen, von dem mancher Opernkomponist wünschte, ihm wäre die neuerliche Begegnung so eingefallen. Dass er ein wenig arg steif zwischen den Stuhlreihen steht, fällt dem Publikum nicht weiter auf. Längst hat es sich vom Zauber des Raums, des Lichts und des Vortrags einfangen lassen.

Zwei, drei Gedichte weiter verlässt Bösherz den Raum, um unter brausendem Beifall zurückzukehren. Da fehlt es nicht an Bravo-Rufen, wenn Bösherz und Huy sich gemeinsam dem Urteil des Publikums stellen. Einen Namen für diese Form der Aufführung muss man sich wohl erst noch einfallen lassen, denn wiederholenswert ist sie allemal.

Michael S. Zerban