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LIEBE KITTY
(Anne Frank)

Gesehen am
12. November 2020
(Digitale Voraufführung)

 

Junges Schauspiel, Münsterstraße, Düsseldorf

Eigentlich kann man das Tagebuch der Anne Frank gar nicht oft genug aufführen. Und wenn ein Regisseur eine neue Sichtweise auf das Stück entwickelt, kann das ja durchaus eine Bereicherung sein. Jan Gehler hat als Grundlage seiner Inszenierung nicht auf das Tagebuch zurückgegriffen, sondern auf ein Romanfragment, das Anne Frank nach ihren Notizen in den Jahren 1942 bis 1944 begann. Darin wendet sie sich an eine imaginäre Freundin namens Kitty. Daraus erklärt sich der Titel des Stücks, Liebe Kitty, das eigentlich heute vor Publikum zur Uraufführung im Jungen Schauspiel an der Münsterstraße kommen sollte. Weil das nun nicht möglich ist, hat sich das Jugendtheater entschlossen, das Ganze als „Öffentliche Probe“ und „Digitale Voraufführung“ zu deklarieren und als kostenlosen Livestream im Internet zu zeigen.

Ansgar Prüwer hat einen ausgesprochen minimalistischen Bühnenraum entwickelt. Acht Stühle verschiedenster Herkunft und ein historisch anmutendes Radiogerät müssen in dem ansonsten schwarzen Raum ausreichen. In der Unterschiedlichkeit der Stühle will Prüwer ebenso die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlagen wie mit seinen Kostümen, die von Schlaghosen bis zu Turnschuhen reichen. Dass das im Gesamtbild eher beliebig wirkt, muss man dann wohl in Kauf nehmen. Zusätzliche Requisiten gibt es nicht, deren Vorhandensein soll durch kindhafte Pantomime veranschaulicht werden. Eine solche Zurückhaltung mag die Entbehrungen im Amsterdamer Hinterhaus versinnbildlichen. In der Personenführung gibt es hingegen fleißiges Stühlerücken, um die Grundidee des Regisseurs zu verwirklichen. Der möchte nämlich die verschiedenen Facetten in der Persönlichkeit des Mädchens verbildlichen und schickt deshalb fünf Darsteller auf die Bühne. Die sind beiderlei Geschlechts und von unterschiedlicher Statur, wobei im Spiel keine besonderen Eigenschaften sichtbar werden. Zusätzlich übernehmen die Darsteller die Rollen der Mitbewohner. Das erfordert beim Zuschauer ein hohes Maß an Konzentration. Für Abwechslung sorgen Textprojektionen und kleinere Musikeinspielungen von Vredeber Albrecht.

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Ali Aykar, Felicia Chin-Malenski, Natalie Hanslik, Ron Iyamu und Eduard Lind schlagen sich angesichts großer Textmengen tapfer. Etliche Hänger sind in einer „Probe“ zulässig. Überdies ist es für die Darsteller nach eigener Aussage ungewohnt, vor drei Kameras anstatt einer vollen Tribüne zu spielen.  Gerade spielerisch aber haben die fünf die Bühne – und die Kameras – bestens im Griff, und das ist bei den ständigen Rollenwechseln durchaus bewundernswert.

Bis dahin ist es eine ordentliche Inszenierung mit ein paar guten Ideen. Dass im Laufe der Proben anscheinend eine Schauspielerin abhanden kam, hinterlässt keine merkliche Lücke. Warum so etwas nicht in der Programmankündigung korrigiert wird, bleibt unverständlich. Nach knapp anderthalb Stunden ist das Stück beendet, und mit rund 270 Zuschauern in der Spitze bei YouTube können die Veranstalter durchaus zufrieden sein. Wer sich das Video noch anschauen möchte, sollte an dieser Stelle abschalten. Denn was jetzt folgt, ist mehr als ärgerlich.

Dramaturg Benjamin Brückel kündigt eine Gesprächsrunde mit Darstellern, Regisseur und Bühnenbildner an. Wer seine Kinder in ein Düsseldorfer Stadttheater schickt, darf wohl mit Fug und Recht erwarten, dass sie in einen ideologiefreien Raum kommen, in dem vernünftiges Deutsch gesprochen wird. Einen Dramaturgen, der sich dieser Verantwortung nicht bewusst ist, kann man als verantwortungslos und peinlich bezeichnen. Der hier gendert beherzt, aber ungekonnt drauf los. Gendern ist ideologischer Sprachmissbrauch, der durch keinerlei Regelwerk abgedeckt ist. Und bei Jugendlichen ab zehn Jahren, für die dieses Video erklärtermaßen gedacht ist, schon gar nicht. Stattdessen wäre ein ordentliches Deutsch hilfreich. „Ansgar, kannst Du was zu Deinem Zugriff auf die Ausstattung sagen?“ ist nur eines von vielen Beispielen, mit denen Brückel einen Jargon vermittelt, der nicht einmal Erwachsene beglücken kann.

Wenn Eltern sich bei einer Institution, die von Stadt und Land bezahlt wird, nicht mehr darauf verlassen können, dass ihre Kinder einen ideologiefreien Raum respektive ein solches Video vorfinden, sollten sie ihre Zöglinge lieber von solchen Veranstaltungen fernhalten. Und da muss sich auch der Künstlerische Leiter Stefan Fischer-Fels fragen lassen, ob er das mit dem vielbeschworenen gesellschaftlichen Diskurs der Theater verstanden hat.

Michael S. Zerban