Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
HOOKED
(Kassandra Production)
Besuch am
8. April 2022
(Deutsche Erstaufführung)
Es ist nicht gut bestellt um Deutschland. Nie war die soziale Kälte größer als unter der vergangenen Regierung. Werte erodieren, werden von Moral abgelöst. Die finanzielle Umverteilung von unten nach oben nimmt zu, immer mehr Existenzen geraten in bedrohliche Schieflagen. Zusätzlich versucht eine Minderheit, die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben, indem sie die Sprache missbraucht, um die Menschen in geschlechtliche Lager zu teilen. Wie geht der einzelne damit um? Er begibt sich auf die Suche nach einem persönlichen Ausweg. Von der Suche zur Sucht ist es ein immer kleinerer Schritt. Die Zahl der Suchtmittel ist in den vergangenen Jahren ebenso gestiegen wie die Zahl der Suchtkranken.
Und Deutschland steht nicht alleine da. Aus Dänemark ist das Kollektiv Kassandra Production zum Forum Freies Theater nach Düsseldorf gereist, um seine Produktion Hooked, auf Deutsch süchtig, zu präsentieren. Um es vorwegzunehmen: Es gibt keine neuen Erkenntnisse. Aber einen eindrucksvollen Abend. Die Bühne hat Peter Johansson durchdacht eingerichtet. Sie ist leer, bis auf ein schmales Häuschen, das in der linken, hinteren Ecke aufgebaut ist. Es besteht aus zwei transparenten Wellplatten, die die Sicht verzerren, wenn man sich dahinter aufhält. So können ohne weiteren szenischen Aufwand die verschiedenen Bewusstseinszustände dargestellt werden. Morten Ladefoged sorgt für ein wunderbar differenziertes Licht, das sich in seinen Effekten im Wesentlichen auf das Häuschen fokussiert. Überhaupt begeistert die Bühnentechnik, wenn etwa bei einem „Handytanz“ drei Smartphones weiß leuchten und gleichzeitig unterschiedlichste Geräuschquellen produzieren. Annika B. Lewis hat sich das einfallen lassen. Der Regisseurin geht es nicht darum, die Moralkeule zu schwingen. Vielmehr will sie an der Schnittstelle von Tanz, Musik und Theater erklären, wie leichtfüßig Sucht entsteht. Visuell lässt sie den typischen Suchtverlauf vertanzen: Von der großen Euphorie des großen Rauschs bis zur vor Selbstmitleid triefenden Erschöpfung, die schon bald auch für gesundheitliche Probleme sorgt. Und dann gibt es die englischen Monologe. Da erzählt beispielsweise Morgan Nardi die Geschichte von Hänsel und Gretel, die aus größter Not in die neuen Gefahren des Süßigkeiten-Rauschs geraten. Lisbeth Sonne Andersen berichtet von der beruflichen Belastung, die sie nur noch mit Hilfsmitteln bewältigen kann. Und Petr Hastik berichtet davon, dass in seinem Leben ohne Smartphone nichts mehr geht. Das missglückt etwas, weil die nicht mikrofonierten Darsteller sich nicht immer dem Publikum zuwenden und damit mitunter kaum verständlich sind. Aber auch ohne alles zu verstehen, kann man dem Verlauf gut folgen.
Foto © Jens Peter Engedal
In der Bewegungssprache hat sich Lewis ziemlich genau angeschaut, wie sich die Menschen in Clubs vergnügen. Das wirkt sehr authentisch und passt wunderbar zur Musik von Jens Monsted und Anders Krøyer, die hämmernd die Rhythmen wiedergeben, die man sich in solchen Vergnügungsstätten vorstellt. Ohne jede Anklage versteht der Zuschauer, wie normal das alles ist. Nach der Arbeit am Wochenende auf die Tanzfläche, ein paar Stimmungsaufheller wirken da noch mal so gut, und es ist wirklich nichts Schlimmes dabei. Im Gegenteil. Ist ja nur am Wochenende. Die Assoziationen reichen weiter: Wie entgeht man in der Woche der Tretmühle? Porno-Abende vor dem Rechner oder Spiele-Nächte in der digitalen Welt? Serienexzesse vor dem Fernseher? Ein bisschen Alkohol dabei, um runterzukommen, oder hier und da ein anderes Rauschmittel? Nein, kein Vorwurf. Irgendwann verschwinden die Darsteller hinter der zweiten Wand, in der Unsichtbarkeit irgendeiner Bewusstseinsebene.
Das Paradoxon des Abends: Die Menschen haben angesichts von Krieg und Inflation gerade gar keinen Kopf für andere Probleme. Da erfahren sie nämlich täglich im Lebensmittelladen, an der Tankstelle und in den Abendnachrichten, dass die Regierung sie nicht schützt, sondern wieder einmal „Opfer“ verlangt. Und so sucht man vielleicht lieber nach anderen Zerstreuungen als dem Theater … So bleiben im großen Saal des Forums Freies Theater am Hauptbahnhof unverdient viele Plätze auf der Tribüne leer. Das Publikum, das gekommen ist, bedankt sich herzlich für die Darbietung. Wer sich jetzt trotzdem diese überaus gelungene Produktion anschauen möchte, hat dazu nur noch am 9. April Gelegenheit.
Michael S. Zerban