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Aktuelle Aufführungen
HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN
(Jacques Offenbach)
Besuch am
13. April 2025
(Premiere)
Jacques Offenbachs letztes Werk Les Contes D´Hoffmann wurde 1881 an der Opéra-Comique Paris ein Jahr nach seinem Tod uraufgeführt und gilt als das vielleicht berühmteste Fragment der Operngeschichte. Es existieren zahlreiche unterschiedliche Fassungen, denen musikalische Quellen Offenbachs zugrunde liegen oder gar Varianten aus fremder Hand. So kann jedes Opernhaus eine Version entsprechend der eigenen Konzepte erarbeiten. Das Libretto der Opéra fantastique in fünf Akten stammt von Jules Barbier, nach dem gleichnamigen, 1851 uraufgeführten Theaterstück von Jules Barbier und Michel Carré, das auf verschiedenen Erzählungen des romantischen Schriftstellers E. T. A. Hoffmann beruht. Daraus einen soliden oder gar einen großen Opernabend zu extrahieren, ist eine Herausforderung. An der Deutschen Oper am Rhein stand das Werk zuletzt 2004 von Christoph Loy und 1988 von Kurt Horres jeweils in opulenten Inszenierungen auf dem Spielplan.
Die Neuinszenierung als Koproduktion mit der Oper Graz wählt einen ganz neuen, in seiner Gesamtheit sehr aufwändigen Weg. Das verschiedene Regisseure ein Opernwerk bearbeiten, kennt man von Wagners jüngeren Ring-Interpretationen. Das aber die fünf Akte einer einzelnen Oper von verschiedenen Regisseuren inszeniert werden, ist zwar kein absolutes Novum, dennoch äußerst selten und selten erfolgreich. Vier Regieteams mit komplett unterschiedlichen Ansätzen setzen an, spannendes Welttheater auf die Bühne des Düsseldorfer Opernhauses zu bringen. Die großartigen Gemeinschaftsproduktionen um Barry Kosky, Orpheus in der Unterwelt und Die Zauberflöte, haben dafür die Grundlagen geschaffen und geben Anlass zu verhaltenem Optimismus.
Foto © Barbara Aumüller
Man darf gespannt sein, wie Jacques Offenbachs Oper über das Schaffen und Scheitern eines Künstlers in der aktuellen Inszenierung funktionieren wird. E.T.A. Hoffmann, der deutsche Universalkünstler, Dichter, Schriftsteller, Zeichner, Komponist, steht im Mittelpunkt des Werkes. Es ist wohl seine ausgeprägte Vielseitigkeit, an der sich die Produktion mitorientiert. Es sind seine besonderen Fähigkeiten, die die entscheidende Vorlage für das Regiekonzept liefert: Die Potenzierung der fantastischen Schaffenskraft durch die Einbeziehung verschiedener Kunstformen.
Vier Regisseure mit Konzepten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, realisieren die fünf Akte über drei Stunden hinweg, und es stellt sich die Frage, ob die bewusste Defragmentierung wirklich überzeugen kann. Bei der Orientierung hilft, dass die Gestaltung der Bühne, die Entwürfe der Kostüme und die Lichtregie in den gleichen Händen liegen und das Ausstattungsteam nicht von Akt zu Akt wechselt. So zieht sich zum Beispiel der üppige Faltenwurf eines roten Vorhangs analog und virtuell durch alle Akte.
Den Rahmen für die Neuinszenierung setzt Regisseur Tobias Ribitzki, mit einer Art Prolog und Epilog im ersten und fünften Akt. Auf einer dunklen, leeren Bühne stehen mit Tisch, Sessel, einem noch unbeschriebenen Blatt Papier und einem Glas Wein nur wenige Requisiten. Aber sie genügen für den Auftakt, indem der Dichter das Licht seiner Inspiration anknipsen und eine Handlung initiieren kann, an deren Ende die Versöhnung zwischen seiner triebhaften Natur und den Konventionen der Gesellschaft stehen wird. Die Ambivalenz zwischen Realität und Surrealem deutet sich hier schon an. Der Bühnenraum bleibt dunkel. Für farbige Akzente sorgen nur ein sich leicht vergrößernder scharlachroter Vorhang sowie die verhalten pastelligen Kostüme des Herrenchors. Für die Kostüme zeichnet Silke Fischer verantwortlich. Dieser Teil der Produktion ist im Hinblick auf die Regiearbeit noch der konventionellste.
Im darauffolgenden Olympia-Akt allerdings ist es um die herkömmlichen Sehgewohnheiten geschehen. Dafür sorgt die britische Theatergruppe 1927 mit einer Kombination aus Projektion, Filmanimation und live acting. Olympia wird nicht, wie üblich, dazu angehalten, sich als mechanisch bewegende Gliederpuppe zu gerieren, sondern Paul Barritt und Esme Appleton vom britischen Kreativteam 1927 bauen sie in eine großflächige, bunte, stets in Bewegung stehende Animation ein, auf der meist nur ihr Gesicht zu sehen ist. Der Rest, ihr Körper samt Gliedmaßen, ist reine Animation, und ermöglicht unglaublich wendige Bewegungsabläufe. Auch Hoffmann, der sich in Olympia verliebt, wird zum Teil in das Geschehen als künstliche Figur eingebunden. Animation als Weiterentwicklung der uhrwerksbetriebenen Automaten-Technik des 19. Jahrhunderts ist reizvoll und passend für das Sujet. Die präzise Umsetzung der Verschmelzung von Bild und Live-Performance fasziniert und scheint eine willkommene Abwechslung. Auf Dauer jedoch erschöpft sich die bewegte Bebilderung ein Stück weit und verliert die gewünschte Originalität. Wer die künstlerische Handschrift der Theatergruppe 1927 schon in der jüngsten Produktion der Zauberflöte erlebt hat, sieht alte Sehgewohnten bestätigt, innovativer wird es nicht. Im Vergleich zu jüngst entwickelten immersiven Museums- und Bühnenshows wirkt die animierte Trickkulisse fast schon ein wenig verstaubt. Dennoch ist das hohe Tempo der absurd-märchenhaften Erzählung in diesem Akt großes und lustiges Entertainment.
Komplett analog danach der Antonia-Akt, in dem der Bühnenraum um die Hinterbühne erweitert wird und so ein großer Raum mit Stahlgerüsten und -Treppen entsteht. Die Bühne hat Stefan Rieckhoff entwickelt. Menschengroße Puppen dominieren optisch das Geschehen. Neville Tranter, seit 40 Jahren als Puppenspieler gefragt, zeichnet für diesen Akt verantwortlich. Die Puppen werden jeweils von zwei Personen, unter denen bei bestimmten Charakteren auch ein Sänger ist, geführt. Puppen verkörpern in dem Akt Dr. Miracle, Crespel, den Diener Franz, Antonias Mutter und Min, eine hinzugedichtete, aber zu vernachlässigende Figur, die Antonia in wahrer Liebe verbunden sein soll. Puppenspiel auf der Opernbühne vermag ganz eigene Facetten und Dynamiken zu entwickeln, eine größere Verletzlichkeit, mehr Intimität, mehr Reflektion. Im konkreten Zusammenhang jedoch erscheint der Mehrwert der eher abstoßend wirkenden Puppen überbewertet. Mit einer Ausnahme: Die Figur des Hausdieners Franz erfährt durch die Puppe tatsächlich vielschichtige Nuancen, die anrühren und amüsieren. Aber das bleibt die Ausnahme. Sehr uninspiriert die Antonias verstorbene Mutter darstellende Puppe, die starr einer Mumie gleich vom Schnürboden herabgelassen wird. Hier wird auf die Co-Besetzung mit einer Sängerin verzichtet. Alles in allem wenig konsequent und wenig überzeugend. Einzig der großzügige, mit Drehbühne belebte Bühnenraum mit rotem Vorhang und blauen Flächenprojektionen, sorgt für eine gewisse Großzügigkeit. Welche Magie Puppen auf der Opernbühne tatsächlich entwickeln können, konnte man zuletzt in der Inszenierung des Kreidekreises von Zemlinsky auf gleicher Bühne erleben.
Überzeugender gelingt Nanine Linning die Gestaltung des in Venedig spielenden Giulietta-Akts in einer Art Unterwasserwelt, kommt also ohne jede Andeutung venezianischer Silhouetten und Gondeln aus. Mit Tanz, Couture, Design, Licht, Video und bildender Kunst gerät der Akt zur ästhetischen und dramaturgischen Offenbarung. Dabei kommt dem Chor eine zentrale Bedeutung zu. Aus einem agilen Bewegungschor wird Tanztheater, das den Chor in fließende, strömende Wogen rhythmische Formen bilden und wieder auflösen lässt. Die Bildsprache der Choreografie scheint dabei stark von der Ästhetik Pina Bauschs im Allgemeinen und ihrer Choreografie Frühlingsopfer im Besonderen beeinflusst. In den wunderbaren schwarz, blau, violett changierenden Kostümen von Irina Shaposhnikova entstehen über das Eindrehen auf die große Drehbühne grandiose Tableaus, die die Kulisse bilden für die dritte und letzte hier erzählte Episode aus Hoffmanns gescheiterten Liebesleben. Im Bühnenzentrum rotiert eine überdimensionierte Spiegelkammer, die mit ihren Reflexionen einem Vexierbild ähnelt und in Korrespondenz zum Spiegelkleid der Giulietta ein optisches Kleinod zeigt. Vermittels der ausgeklügelten Lichtregie von Sebastian Alphons entsteht darüber ein komplexes Muster geometrischer Lichtkegel, das im Zusammenspiel mit Theaternebel für die nötige surreale und bedrohliche Stimmung sorgt. Hier vermag Linning die besondere Dramatik der Musik des vierten Aktes in extrem starke Bilder umzusetzen.
Foto © Barbara Aumüller
Der fließende Übergang zum fünften Akt über die Drehbühne bringt die Requisiten des ersten Aktes wieder zurück auf die Bühne, während sich die Chormassen zum Bühnenhintergrund wegdrehen und der große rote Vorhang optisch die Szene wieder beherrscht. Die Muse erweckt den geläuterten Hoffmann aus seinen Träumen.
Hat man über die ersten drei Akte den Eindruck, Offenbachs Opéra fantastique könnte zur Nummernrevue degradiert werden, so gerät das finale Tableau mit Chor und Protagonisten dann doch zur überwältigenden Apotheose der bewusst defragmentierten Bühnenerzählung, und es scheint sich zu bewahrheiten, dass der Abend trotz so unterschiedlicher Ausdrucksmittel am Ende zusammengeführt wird. Angesichts des enormen Aufwands der Produktion lässt sich aber feststellen, dass die vier heterogenen Regiekonzepte einen geschlossenen Illusionsraum mit Tiefgang nicht herzustellen vermögen. In der Gesamtheit aber zeigt die Inszenierung ein buntes, bildgewaltiges Kaleidoskop und hat viel Neues und Ungewohntes zu bieten.
Auf der musikalischen Seite des Abends ist als Muse Maria Kataeva der absolute Höhepunkt. Ihr warm timbrierter Mezzo begleitet den Zuhörer durch die gesamte Oper und lässt immer wieder aufhorchen. Ihre überragende stimmliche Performance scheint verlässlicher Ruhepol der gesamten Aufführung zu sein. Wie ein Stein in der schäumenden Brandung des Regietsunamis. Stimmlich und darstellerisch ist sie so präsent, dass sie die drei Soprane zuweilen in den Schatten stellt.
Der Titelheld Hoffmann wird mit Bravour von Ovidiu Purcel facettenreich und mit größter Spielfreude verkörpert. Es ist eine kräftezehrende Paraderolle für jeden Tenor, die man sich klug einteilen muss. Seine besondere Stimmfärbung verleiht der ohnehin komplexen Rolle noch mehr Facetten. Kraftvoll in der Höhe und gebrochen in den intimen, lyrischen Momenten. Hinzu kommt der Einsatz als Ausdruckstänzer im Giulietta-Akt, in dem Purcell eine beachtlich gute Figur macht.
Der facettenreiche, farbkräftige Bass Bogdan Talos stattet dank seiner gestalterischen Fähigkeit die Rollen der Bösewichte Lindorf, Coppélius, Dapertuto und Le docteur Miracle mit den nötigen perfiden Profilen aus und agiert als umtriebiger Gegenpart Hoffmanns. Elena Sancho Pereg bietet eine perfekte Olympia, leider viel zu kurz! Ihre präzis gesetzten Koloraturen sind glasklar, rein und einfach makellos. Dem Regiekonzept entsprechend liegt der Fokus auf dem Gesang. Ihre zuletzt in Orpheus in der Unterwelt zelebrierte, außergewöhnlich spritzige Bühnenpräsenz bleibt diesmal im Verborgenen. Darija Augustan zeichnet die Antonia glaubhaft im Widerstreit von Schwermut und Lebenslust. Ihr berührender Sopran vermag die Rolle höchst authentisch zu beleben. Dabei verfügt sie über eine wohlmodulierte Stimme mit überzeugender Präsenz in zarten lyrischen Passagen und den Momenten des stimmgewaltigen Aufblühens in der Höhe. Sarah Ferede als Giulietta ist die mit Abstand beeindruckendste Bühnenerscheinung. Allerdings beschränkt sich das auf Ihren Phänotypus. Ihre Stimme enttäuscht an diesem Abend. Sie ist häufig zu klein, zu leise und vermag sich nicht über das Orchester hinwegzusetzen. Ein paar strahlende Höhen lassen erahnen, auf was man weitestgehend verzichten muss. Auch in der Barcarole, im Duett mit Maria Kataeva bleibt ihre Stimme etwas zu verhalten. Die willensstarke, intrigante Kurtisane erkennt man mehr in ihrem Spiel.
In weiteren Rollen zeichnen sich unter anderem der für Komik sorgende Andrés Sulbarán als Andrès, Cochenille, Pitichinaccio und Franz, Torsten Grümbel als Maitre Luther und Crespel sowie Florian Simson als Nathanael und Spalanzani aus. Die Stimme von Antonias Mutter aus der Höhe von Katarzyna Kuncio ist sphärisch und dramatisch. Jake Muffett konturiert gekonnt den Schlemihl.
Ein ganz besonderes Lob an den großartig singenden und spielenden Chor. Fehlt es dem Herrenchor im ersten Akt anfänglich noch ein wenig an ausgewogener Balance, formt sich im Laufe des Abends der gewohnt souveräne Klangkörper, der im vierten Akt zur Hochform aufläuft und fast alles in den Schatten zu stellen scheint, was zum Portfolio eines Chores zählt. Was Regisseurin Linning aus dem Bewegungschor herausholt, ist bemerkenswert. Beeindruckendere Tanzformationen hat es außerhalb des Balletts so auf der Bühne des Düsseldorfer Opernhauses noch selten gegeben.
Unter der musikalischen Leitung von Frédéric Chaslin finden die Düsseldorfer Symphoniker schnell Zugang zur komplexen und abwechslungsreichen Partitur von Jacques Offenbach. Von hoher Klangkultur getragen, werden die verschiedenen musikalischen Welten differenziert und formschön präsentiert.
Als akustische Einschränkung machen sich die Einspielungen des Chores im ersten und fünften Akt bemerkbar. Seien es Tonkonserven oder Liveeinspielungen. Solange die Stimmen verfremdet aus den über dem Bühnenportal installierten Lautsprechern ertönen, verliert das Opernliveerlebnis ein Stück weit seine Faszination.
Das begeisterte Publikum bedankt sich mit starkem, langanhaltendem Beifall für alle Beteiligten. Für das Regieteam in Kompaniestärke einige Bravos, wenige Buhs, insgesamt aber moderate Zustimmung.
Bernd Lausberg