O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Valeria Isaeva

Aktuelle Aufführungen

Trauer in großer Inszenierung

HELLO TO EMPTINESS
(Stephanie Thiersch)

Besuch am
29. April 2022
(Deutsche Erstaufführung)

 

Tanzhaus NRW, Großer Saal, Düsseldorf

Trauer ist universal und vermutlich so alt wie die Menschheit. Dabei gibt es wohl so viele Arten zu trauern, wie es Menschen gibt. Jetzt hat sich die Kölner Choreografin Stephanie Thiersch und ihr Ensemble Mouvoir mit einer Vielzahl von Gästen dieses Themas angenommen. Dabei müssen eine Menge Fragen entstehen, vor allem, wenn man den Begriff nicht eingrenzt. Wie gestaltet sich Trauer im Laufe der Geschichte und in Bezug zum Kulturkreis, wie verändert sich Trauer, wenn die Gesellschaft und ihre relevanten Konfliktstoffe sich ändern? Und nicht zuletzt: Welche Bedeutung hat Trauer für den einzelnen und für die Gemeinschaft? Um solchen Fragen nachzugehen, wählt Thiersch in gewohnter Weise einen ganzheitlichen Ansatz, lässt also alle Genre-Grenzen fallen, und verlässt sich auf ihr längst internationales Netzwerk. Das kann schon mal zu Schwierigkeiten bei der Einordnung und in der Bewertung ihrer Arbeit führen. Wie beispielsweise bei ihrem neuesten Werk Hello to Emptiness – Sag willkommen zur Leere – das am 16. April seine Uraufführung an der griechischen Nationaloper in Athen feierte und nun im Großen Saal des Tanzhauses NRW in Düsseldorf zur deutschen Erstaufführung kommt.

Die Bühne ist ein Traum. In der Mitte, etwas seitlich versetzt, ist eine Wasserfläche angelegt, die von „Felsengestein“ aus angemalten Weichgummi umgeben ist. Hinter der Wasserfläche wird daraus eine Art Podest. Links davon sind im Hintergrund fünf Schaukeln als Luftelemente aufgehängt. Die dienen allerdings eher als Versammlungsort, als dass sie rechten Einsatz finden. Über der Bühne ist eine Brücke angebracht, die einen Lichtschacht über der Wasserfläche freigibt. So kann Begoña Garcia Navas immer wieder mit interessanten Lichteffekten glänzen. Bei den Kostümen hat Lauren Steel viel Fantasie walten lassen. Der von Thiersch zusammengestellte Chor älterer Bürger aus Düsseldorf und Umgebung ist in lilafarbene, wallende Gewänder gekleidet, die Darsteller tragen türkisfarbene, seidene Stoffe und reichlich Perlenschmuck. Das hat schon was von Geschichten aus 1001 Nacht. Die Choreografie ist eine Teamarbeit von Thiersch und den Tänzern. Sie ist abwechslungsreich, vielschichtig und in Zusammenhang mit den Chorbewegungen entstehen hier geradezu opernhafte Bilder. Bis hierhin ist es eine wunderbare Tanzdarbietung, die zahlreiche Emotionen über Humor, Wut, Nachdenklichkeit, Zagen und Traurigkeit zeigt, eben alles, was in das Umfeld von Trauer gehört.

Foto © Valeria Isaeva

Aber Thiersch reicht das nicht. Denn die Tänzer können mehr. Sie können singen und komponieren. Und damit wird der Tanz zu – ja, was? Grundlage eines „bewegten Konzerts“? Dann wird der Abend den Besuchern nicht gerecht. Denn die Kompositionen von Martha Mavroidi und Mariana Sadovska vertonen ukrainische, italienische, türkische, griechische, englische und lediglich einen deutschen Text. Dazwischen werden Texte verschiedener Autoren in verschiedenen Fremdsprachen rezitiert. Da gibt es für das Publikum keinen Zugang, denn Übertitel fehlen. Das ist bei einem irrsinnigen Aufwand Perlen vor die Säue. Oder eben doch „nur“ musikalische Untermalung. Das allerdings wird wiederum den großartigen Stimmen nicht gerecht. Martha Mavroidi lässt sich durch die Gegend tragen, während sie samtweich singt. Mariana Sadovska lässt eine uralte ukrainische Seele erklingen. Manon Parent gibt sich als Biest. Mit samtweichem Bariton glänzt Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola. Und absolut berückend ist Julien Ferranti, ein Countertenor, der an diesem Abend mal einen eindrucksvollen Bass zu Gehör bringt.

Um hier keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Thiersch ist wieder ein außerordentliches Werk gelungen, das zu Recht gleich durch die halbe Welt tourt. Im September geht es nach Seoul, im November nach Nîmes und im Dezember nach Leipzig. Aber das Gefühl bleibt, dass sie sich hier unter Wert verkauft. Das zahlreich erschienene Publikum, das erfreulich jung ist, applaudiert entschieden, aber kurz. Am 30. April gibt es für Kurzentschlossene noch die Möglichkeit, sich der Trauer im Tanzhaus hinzugeben.

Michael S. Zerban