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Aktuelle Aufführungen
HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)
Besuch am
17. Dezember 2023
(Premiere am 26. Oktober 1969)
Nicht alles, was alt ist, ist auch schlecht. Bis heute gilt die Regel, nicht über eine rote Ampel zu laufen. Das rettet jeden Tag Menschenleben. Wir haben Rechtschreibregeln, die uns davor schützen, dass Ideologen die Sprache vereinnahmen. Und in der Oper? Gibt es Inszenierungen, bei denen das Publikum den Intendanten zeigt, was es sehen und hören will. Da muss so ein Intendant überhaupt keine schwierigen Entscheidungen fällen, sondern einfach auf die Zuschauerzahlen schauen. Ein schönes Beispiel dafür ist eine Oper, die Andreas Meyer-Hanno an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg inszeniert hat. 1969 brachte er im Theater Duisburg die Inszenierung von Hänsel und Gretel erfolgreich auf die Bühne. So erfolgreich, dass sie bis heute gezeigt wird. Der in Siegburg geborene Komponist Engelbert Humperdinck schrieb sie 1891 auf Anraten seiner Schwester Adelheid Wette, die das Libretto dazu verfasste. Von Anfang an, also seit seiner Uraufführung am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater, stand das spätromantische Werk nach dem Märchen der Brüder Grimm für sich selbst. Man brauchte es nicht „neu zu befragen“ und es bedurfte keiner ausgefallenen „Regie-Ideen“. Wer klug wie Meyer-Hanno war, erzählte einfach das, was im Libretto stand, auf der Bühne nach.
Foto © Hans Jörg Michel
2016 stand in der Rheinoper die Frage zur Debatte, ob man nicht endlich mal eine neue Inszenierung benötige. Eine der klügsten Entscheidungen des Intendanten Christoph Meyer war, statt einer neuen Produktion eine szenische Neueinstudierung zu wählen. Das ist eine Fleißarbeit, die keinen Ruhm mit sich bringt, aber einer Inszenierung oft den alten Glanz wiederverleiht, der im Laufe vieler Jahre etwas nachlässt. Die Patina wird entfernt. Damit wurde Esther Mertel beauftragt, und sie leistete hervorragende Arbeit, wie sich 2017 zeigte. Sechs Jahre später ist das Zuschauerinteresse ungebrochen. Die 667. Vorstellung ist bis auf den letzten Platz verkauft. Es ist Sonntagnachmittag, und vor den Türen der Oper zeigen Menschenmassen, dass man sich eigentlich jetzt eher mit dem Besuch der Düsseldorfer Weihnachtsmärkte befasst. Wer sich allerdings dafür entscheidet, verpasst das völlig überlaufene Foyer in der Oper. Ein herrliches Bild. Aufgeregte Kinder werden von ihren Großeltern oder Eltern mehr oder minder gebändigt, und die Erwachsenen geben sich alle Mühe zu verbergen, dass sie selbst von einem Opernbesuch überhaupt keine Ahnung haben. Jetzt also schlägt die Stunde der Wahrheit, und man darf schon jetzt versichert sein, dass vermutlich nicht alle Eltern wiederkommen werden, aber alle, die heute Nachmittag da sind, noch in vielen Jahren von diesem Besuch berichten werden. Die Bediensteten der Oper laufen zur Höchstform auf, um den Besuchern ein unvergessliches Erlebnis zu bieten.
Schon bald summt und brummt es im Publikumssaal. Was Kinder alles wissen wollen und mitzuteilen haben, wenn sie so etwas Ungewöhnliches erleben. In jeder anderen Aufführung bekäme man vermutlich die Krise, aber hier ist es ein Heidenspaß, wenn das Flüstern kein Ende nehmen will. Und dazu gibt es ja auch Grund genug. Allein die Bühne von Gerda Zientek sorgt immer wieder für Staunen. Das halbverfallene Haus der Besenbinder-Familie mitten im Wald, der aus Gaze, Prospekt und Licht besteht, ist so zauberhaft wie die Waldlandschaft im zweiten Bild verwunschen wirkt und das Knusperhäuschen mit dem Ofen im dritten Bild für Wasser auf der Zunge wie Grusel gleichermaßen bewirkt. Die Kostüme von Inge Dietrich helfen den Besuchern, sich in die Märchenwelt der Brüder Grimm zurückzuversetzen, in denen die Schlichtheit der Landbevölkerung vorherrscht. Es gibt in dieser Oper keine „Schlager-Arien“, aber spätestens bei Brüderlein und Schwesterlein sind die Kinder und vor allem die Großeltern entzückt, und wenn der Abendsegen kommt, schweigen selbst die Kinder ergriffen, weil da doch plötzlich vierzehn Engel auf der Bühne erscheinen, um die Kinder im Wald zu beschützen.
Foto © Hans Jörg Michel
Auch bei der Besetzung stößt man auf Kontinuität. Renée Morloc singt auch heute die Mutter. Täuscht bei Stefan Heidemann die Erinnerung, oder hat sich sein Bariton in den Jahren prächtig weiterentwickelt, mit dem er in großer Klarheit Vater Peter interpretiert? Morenike Fadayomi spielt nach so vielen Jahren immer noch die Hexe – mit weiterhin diebischem Spaß. Die jüngeren Stimmen unterliegen – glücklicherweise – einem Wechsel. Alexandra Yangel intoniert und spielt den etwas tollpatschigen Hans, Heidi Elisabeth Meyer entzückt als Grete. Während das Sandmännchen Verena Kronbichler zum Zauber beiträgt, wirkt der Sopran von Bogdana Bevziuk als Taumännchen etwas scharf. Auch den Kinderchor, hier in der Einstudierung von Ricardo Navas Valbuena, hat man schon mal mit mehr Strahlkraft gehört, was aber dem Gesamteindruck nichts nimmt.
Die Stunde der Wahrheit schlägt bei Humperdinck beim Dirigat. Wer hier dem Wagner-Impetus des Komponisten folgt, hat schnell verloren, weil die Stimmen auf der Bühne dann bald begraben sind. Dessen ist sich wohl auch Péter Halász bewusst, wenn er versucht, die Düsseldorfer Symphoniker im Graben zu bändigen. Das gelingt ihm immerhin so gut, dass die Stimmen in weiten Teilen hörbar und verständlich bleiben. Ein Kunststück.
Woran bemisst sich der Erfolg einer Hänsel-und-Gretel-Aufführung? Kenner wissen es. An der Zahl der Buh-Rufe für die Hexe beim Applaus. Je mehr die Kinder sich mit dem Bühnengeschehen identifizieren, desto lauter das Buhen. Und an diesem Nachmittag ist davon jede Menge im Chor zu hören. Das kann nur der Applaus der Erwachsenen noch übertreffen. So kann es noch viele Jahre weitergehen.
Michael S. Zerban