Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
GROßES PASSIONSKONZERT
(Johann Sebastian Bach, Ēriks Ešenvalds)
Besuch am
29. März 2024
(Einmalige Aufführung)
Die Leidensgeschichte Jesu Christi nimmt mit dem heutigen Tag ein Ende. Gelegenheit für Wolfgang Abendroth, seit 22 Jahren Kantor der Johanneskirche in Düsseldorf und seit zwei Jahren Kirchenmusikdirektor, ein Großes Passionskonzert zu veranstalten. Gemeint ist damit nicht die Aufführung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, aber vom Thomaskantor darf es trotzdem etwas sein. Da bleibt dann nicht mehr so viel übrig. Die Johannes-Passion wird trotz aller Kritik weiterhin landauf, landab gespielt, brauchen wir nicht. Dass die Lukas-Passion, die ihm ursprünglich zugeschrieben wurde, nicht von Bach ist, gilt inzwischen als ziemlich sicher. Und die Markus-Passion – na ja. Bedauerlicherweise ist die Musik dazu verschollen. Aber es gibt ein Textbuch von Picander. Auf solcher Grundlage hat Malcolm Bruno eine Partitur entwickelt, die bei Bach so geklungen haben könnte. Na bitte, ist ja fast wie richtiger Bach, und damit ist dann der „Pflicht“ Genüge getan, um Größerem Raum zu geben.
Gute 90 Minuten nimmt die Markus-Passion in Anspruch. Über den Inhalt muss hier wirklich nichts mehr erzählt werden, allenfalls so viel, dass er von den Evangelisten Matthäus, Johannes bis zu Markus immer einfacher wird. Das gilt, so darf man wohl behaupten, auch für die Musik. Da wird der Durchgang an diesem Abend zum Spaziergang. Auch wenn der Tenor sich krankmeldet. Die Sopranistin übernimmt seine Rolle zusätzlich. Ungewöhnlich, aber machbar. Das 28-köpfige Orchester nimmt im hinteren Teil des Altarraums Platz, davor teilt sich der Düsseldorfer Kammerchor in zwei Hälften, jeweils zur rechten und linken des Cembalos, das Abendroth neben der musikalischen Leitung gleich mit übernimmt. Sopranistin Sophie Klußmann, Altistin Franziska Orendi und Bassist Tomas Kildišius treten zwischen Orchester und Chor auf und begeistern erwartungsgemäß mit ihren wunderbaren Stimmen. Eher zweigeteilt ist die Meinung des Publikums ob der Erzähler, die in dieser Fassung als Sprecher auftreten und nicht sichtbar sind. Während Nikolaus Schneider durchaus differenziert und packend zu intonieren weiß, kann Anne Schneider an vielen Stellen nicht so recht überzeugen. Schließlich ist aber auch dieser fast 300 Jahre alte Text erzählt. Abendroth kann zufrieden sein, das Publikum ist es auf jeden Fall.
Eine bitte möglichst kurze Pause solle eine bewusste Zäsur zum „kontrastierenden“, wie der Dirigent es nennt, nächsten Programmpunkt setzen. Wozu braucht es an einem Abend zwei Passionen, fragen sich doch so einige Menschen und nutzen die Gelegenheit, die gut besuchte Kirche vorzeitig zu verlassen. Pech gehabt. Denn der zweite Teil des Abends ist nicht nur kürzer, sondern vor allem der eigentliche Clou. 2014 hat Ēriks Ešenvalds seine Passion according to St. Luke – frei übersetzt etwa die Leidensgeschichte aus Sicht des Evangelisten Lukas – komponiert. Und man muss es nicht bei einer Nacherzählung belassen. Vielmehr stellt der Komponist aus Lettland das Leben Jesu seinem Leidensweg gegenüber und beschreibt die emotionale Wucht musikalisch. Er hebt also im besten Sinne das Geschehen auf eine Meta-Ebene, und das reißt Gräben auf, öffnet den Himmel und presst die Hörer in die Sitze. Bei Ešenvalds beginnen die acht Sätze, die etwa 40 Minuten in Anspruch nehmen, mitten in der Kreuzigungsszene.
Die Kirche erbebt förmlich zu Beginn der deutschen Erstaufführung. Das ist kolossal, und endlich hat man einmal das Gefühl, dass hier und jetzt das Leiden erklingt. Es ist großartig, ja, atemberaubend. Die Sätze, in denen Ešenvalds das Orchester in einem wahren Inferno erklingen lässt, wechseln mit durchaus melodischen, ja, ätherischen Klängen. Düster schallt die Stimme des eingesprungenen Tenors Eetu Joukainen, der sein Gesangsstudium in seiner Heimat Finnland begann und es nun an der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule zum Ende bringt. Angenehm dunkel und warm auch die Stimme Orendis, und dramatisch der Auftritt von Kildišius. Irgendwo dazwischen immer wieder ein aufschimmernder Chor. Aber hier zerfällt nichts in seine Einzelteile, es ist mehr ein Gefühlssturm, in dem das Geschehen zwar in der Intensität schwankt, aber doch alles ineinandergreift. Und Abendroth liefert eine zutiefst eindrucksvolle Interpretation ab, öffnet Schleusen. Endlich mit dem sanft ausklingenden letzten Satz bleiben die Hörer benommen, aber restlos begeistert zurück.
Welch ein Abschied für den Erlöser, welch ein Auftakt für das musikalische Osterwochenende, das Abendroth als ChamberJam bezeichnet. Gleich vier Konzerte hat der Kantor eingeplant, in denen übrigens auch immer wieder Sophie Klußmann zu hören sein wird, zum Beispiel am Sonntagabend mit ihrer Interpretation von Kurt Weills Youkali. Nur eines wird man bei diesen Konzerten kaum finden: das übliche Repertoire. Stattdessen erklingen unter anderem Werke von Komponisten wie Pēteris Vasks, Osvaldo Golijov, Alban Berg oder auch Zemlinsky, Schönberg, Janáček, Prokofieff und Tschaikowsky. Da möchte man sich schon mal eine Dauerkarte reservieren lassen – die allerdings nicht vorgesehen ist. Die künstlerische Leitung obliegt dann auch nicht Wolfgang Abendroth, sondern Daniel Rowland, der mit seinem neu gegründeten Arethusa-Quartett auftritt.
Michael S. Zerban