Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
GEORGE ORWELL
(Eva Pfister)
Besuch am
22. September 2024
(Einmalige Aufführung)
Matineen, also Veranstaltungen am Morgen, sind schon etwas für Liebhaber oder Menschen mit präseniler Bettflucht. Oder solche, die man mit einem Frühstück locken kann. Letzteres funktioniert beim Verein Heinrich-Heine-Salon seit 1984. Sechs bis acht Matineen veranstaltet der Verein aktuell pro Jahr im ZAKK, einem Veranstaltungsort im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Der Ablauf ist immer ähnlich. Eines der Vereinsmitglieder oder ein Gast bereitet einen Vortrag zu einem bekannten oder bedeutenden Schriftsteller vor, der am Sonntagmorgen mit Musik garniert und einem Frühstück serviert wird.
Vor einigen Jahren hat die Journalistin Eva Pfister eine dreistündige Sendung über George Orwell für Deutschlandfunk Kultur erarbeitet. Das Manuskript hat sie jetzt auf zwei Stunden eingedampft, um es auf der Bühne im ZAKK erneut unter dem Titel George Orwell – Rebell zwischen allen Stühlen zu Gehör zu bringen. Als zweiter Sprecher kommt Daniel Berger hinzu. Und zum ersten Mal mit dabei sind die Musiker Dorrit Bauerecker und Martin Voogd. Die Matinee beginnt pünktlich. Allerdings nicht mit dem Vortrag, sondern die ersten zehn Minuten sind reserviert, um sich am Frühstücksbuffet einzudecken.
Von George Orwell kennen die meisten Menschen wohl die Titel seiner berühmtesten Romane 1984 und Animal Farm. 1984 entstand 1949 und beschreibt einen totalitären Überwachungsstaat. Etliche Begriffe aus dem Roman sind berühmt geworden wie etwa Big Brother, Neusprech oder Doppeldenk. Fünf Jahre zuvor entstand die Farm der Tiere, eine Parabel über das Scheitern der Russischen Revolution und den Verrat der sozialistischen Ideale durch den Stalinismus. Dabei übernehmen die Tiere die Farm. Im Rahmen der Neuorganisation erklären sich die Schweine zu den neuen Anführern. Das geht so lange gut, bis die anderen Tiere bemerken, dass die Schweine sich ein schönes Leben auf ihre Kosten gönnen. Die berühmteste Redewendung aus diesem Buch ist wohl „Some are more equal than others“ – Einige sind gleicher als andere.
Ansonsten weiß man eigentlich wenig über Eric Arthur Blair, der 1903 in Britisch-Indien geboren wurde. Das wird Pfister jetzt ändern. Während sie von den einzelnen Lebensstationen des Schriftstellers berichtet, streut Berger Zitate aus Romanen, Tagebüchern und Briefen ein. Werden Frauen zitiert, springt Bauerecker zusätzlich ein. So entsteht ein buntes, abwechslungsreiches Bild, das die Musik von Bauerecker wahlweise mit Akkordeon oder Toy Piano und Voogd mit Kontrabass oder Gitarre kongenial unterstützt. Den Anfang macht das berühmte Rule Britannia, ein patriotisches Lied des englischen Komponisten Thomas Augustine Arne auf Akkordeon und Kontrabass. Am Toy Piano lässt Bauerecker God save the King erklingen. Dazu wählt sie das Thema und eine Variation aus, die Ludwig van Beethoven komponiert hat.
Derweil erfahren die aufmerksamen Hörer im Saal von der Kindheit und Schulzeit Blairs in England. Pfister zeigt, dass einige Textstellen in dem Zukunftsroman 1984 autobiografische Züge tragen. Dass Blair seine Beamtenzeit bei der britischen Kolonialpolizei in Burma als radikale Ernüchterung in seinen Ansichten vom staatlichen System erlebte, untermalen Bauerecker und Voogd an Akkordeon und Kontrabass mit dem nordindischen Traditional Bhairavi. In Paris beginnt er seine schriftstellerische Laufbahn mit Recherchen als Clochard, schließlich als Tellerwäscher. Auch musikalisch wird es jetzt sehr französisch mit dem Bal Musette von Herbert Deuriger, den die beiden Musiker auf Akkordeon und Bass darbieten. Das Leben wird für den lungenkranken Blair beschwerlicher, was ihn nicht davon abhält, sich weiter um soziale Missstände bis hin zu den Arbeitsbedingungen der englischen Bergarbeiter zu kümmern.
Ihr Duo haben die beiden Musiker nach dem bekannten Lied It Takes Two von Marvin Gaye und Kim Weston benannt. Üblicherweise gehört zur Instrumentensammlung noch eine Ukulele – und der Gesang. Die Miniaturgitarre bleibt im Gepäck, der Gesang glücklicherweise nicht. Und so kommt das Publikum in den Genuss einer wunderbaren Interpretation von 16 Tons, dem Lied von Merle Travis, das die Arbeitssituation US-amerikanischer Bergarbeiter in der Mitte des 20. Jahrhunderts beschreibt.
Schon in der Pause sind von vielen Besuchern begeisterte Kommentare zu dem Musiker-Duo zu hören, das die Zeit Blairs im spanischen Bürgerkrieg mit Hijos del pueblo, einem Lied der Arbeiterbewegung, auf Akkordeon und Kontrabass begleitet. Zur Gitarrenbegleitung singt Voogd den Spanish Civil War Song von Phil Ochs. Während Pfister das Publikum immer tiefer in das Leben von Orwell hineinzieht, auch das Liebesleben nicht auslässt, schreitet die Tuberkulose fort. Von seiner Arbeit als Kriegsberichterstatter ist noch zu reden, als er nach dem Zweiten Weltkrieg nach Köln reist. Der Tod der Ehefrau, die Suche einer Nachfolgerin und das jähe Ende infolge einer Lungenblutung beschließen den kurzweiligen Vortrag, der von zahlreichen Fotos auf einer großen Leinwand im Hintergrund begleitet wird. Einen „Leckerbissen“ hält Bauerecker noch bereit. Virtuos trägt sie den zweiten Satz aus der Suite für Toy Piano von John Cage vor. Eine kritische Würdigung des Sozialisten Orwell, dem zwischenzeitlich ein „vorurteilsbeladenes Verhältnis gegenüber Juden“ ebenso wie geheimdienstliche Aktivitäten nachgesagt wurden, bleibt aus. Und so schließen Bauerecker und Voogd mit Auld Lang Syne, einem schottischen Volkslied, das sie zu Akkordeon und Kontrabass auf Englisch und Deutsch singen.
Idee, Inhalte und die Inszenierung überzeugen ebenso wie der Vortrag der Akteure. Zwei Stunden vergehen im Flug. Da möchte man sich glatt noch mal auf eine Matinee einlassen. Leichter fiele es allerdings schon, wenn sie um 16 Uhr begänne …