O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Klaus Handner

Aktuelle Aufführungen

Jeder darf mal

CRUCES
(Jose Manuel Álvarez)

Besuch am
9. Oktober 2020
(Uraufführung)

 

Tanzhaus NRW, Großer Saal

Eigentlich hätte Dorothee Schackow in diesem Jahr zum letzten Mal das alljährlich zu Ostern stattfindende Flamenco-Festival am Tanzhaus NRW, eines der größten der Welt, leiten sollen. Es wurde aus bekannten Gründen ersatzlos gestrichen. Schackow genießt mittlerweile ihren Ruhestand. Aber wenn jetzt, im goldenen Oktober, noch einmal andalusische Sommerglut das Tanzhaus streift, lässt sie es sich nicht nehmen, der Uraufführung eines ungewöhnlichen Flamenco-Abends beizuwohnen. In der Tat dürfen sich die wenigen Zuschauer, die im Großen Saal des Tanzhauses Platz genommen haben, den Spaniern ab heute noch ein wenig näher fühlen. Denn just an diesem Tag hat die Stadt beschlossen, die Corona-Maßnahmen zu verschärfen, und so sitzen die Besucher mit Maske auf ihren Plätzen. Für die Kulturschaffenden wird es immer mühseliger, das Publikum zu erreichen, selbst wenn sie solch exzellente Programme wie das des heutigen Abends aufbieten können.

Der aus Sevilla stammende Jose Manuel Álvarez zählt heute zu den bekanntesten Flamenco-Tänzern. Viele Jahre arbeitete er mit bekannten Choreografen zusammen und absolvierte mit ihnen weltweite Tourneen, ehe er sich vor sechs Jahren selbstständig machte. Drei Jahre später eröffnete er sein eigenes Flamenco-Studio La Capitana! im Palau de la Música in Barcelona. Jetzt stellt er zusammen mit seiner Compagnia sein neues Werk Cruces vor. Cruce hat im Spanischen zwei Bedeutungen. Es ist zum einen das Kreuz, aber auch die Kreuzung, also der Ort, wo Menschen auf unterschiedlichen Wegen aufeinandertreffen. Im letzteren Fall ein ungewöhnlicher Titel für ein Flamenco-Programm, bei dem es doch eigentlich darauf ankommt, dass alle Beteiligten dem Tänzer oder den Tänzern zuarbeiten. Und genau darum geht es Álvarez und Marta Piñol: die traditionelle Rollenaufteilung zwischen Tanz, Gesang, Gitarre und Perkussion aufzubrechen und zu hinterfragen, um möglicherweise so zu einer Weiterentwicklung des Traditionstanzes beizutragen.

Die Seitenbühnen bieten Platz für zusätzliche Lautsprecher. Links vom Flamenco-Boden sind acht Stuhllehnen aufgestellt oder aufgehängt, vor sieben von ihnen stehen Hocker. Drei weitere Hocker sind vor dem Hintergrund aufgereiht, darüber hängen noch einmal vier Rückenlehnen. Anstatt des vierten Hockers ist ein Cajón platziert. Rechts vorne ist eine kleine Station mit Perkussionsinstrumenten aufgebaut. Olga Garcia gelingt es, in diesem Aufbau ausschließlich mit Weißlicht wunderbare, unaufdringliche Effekte auf den Punkt zu setzen. Die vierköpfige Banda betritt die Bühne und stellt sich mit dem Rücken zum Publikum auf. Schreitet zum Hintergrund, um dort, ebenfalls mit dem Rücken zur Tribüne, Platz zu nehmen. Der Tänzer zeigt sich abgewandt vom Publikum. Nach einer ersten Kostprobe seines Könnens erschallt die Stimme Susanne Zellingers aus dem Off. Das geschieht zwei oder drei Mal. Es hätte eine gute Idee sein können, aber sie hat keinen Bestand und wird dann aufgegeben. Dadurch wirkt sie unprofessionell. Eindrucksvoll, dass die Musiker trotz der deutschen Sprache ihre Einsätze auf das Wort genau finden.

Zunächst zeigt Álvarez weitere Einlagen seines virtuosen Tanzes in konventioneller Aufteilung. José Almarcha, der auch für die Originalmusik verantwortlich zeichnet, bedient die Flamenco-Gitarre als Meister seines Fachs. Den Gesang besorgt Pepe de Pura. Das Tanzhaus druckt auf seinem Abendzettel wenigstens zweisprachige Auszüge der Texte, so dass die Besucher eine Idee von der wunderbaren Poesie bekommen. Endlich. Es ist zu hoffen, dass sich das zur gängigen Praxis entwickelt, wenn schon keine Übertitel eingeblendet werden – die an diesem Abend sicher auch eine atmosphärische Störung verursacht hätten. Lucas Balbo präsentiert sich kurzzeitig als klassischer Palmero, ehe er sich auch als formidabler Perkussionist entpuppt. Alsbald löst sich die klassische Beziehung in der Banda auf. De Pura bekommt einen großen Teil der Zeit eingeräumt, um seinen Gesang ohne Tanz auszuleben. Die Gitarre setzt zeitweilig vollständig aus. Dann erlischt der Gesang, damit Tänzer und Perkussionist Gelegenheit haben, in einen Dialog zu treten, in dem die Rollen kurzzeitig auch vertauscht werden können. Ganz wunderbar der Sitz-Flamenco, den Álvarez und Balbo zeigen. Die Auflösung erweist sich als Gewinn, zeigt neue Facetten und Akzente, ohne vom Zauber des Tanzes oder der Musik zu verlieren.

Nach rund 70 Minuten geht ein Flamenco-Abend zu Ende, der zeigt, dass es sich lohnt, Traditionen überlegt und gekonnt feinfühlig weiterzuentwickeln. Das Publikum weiß das zu würdigen und bedankt sich ausgiebig. Trotz leerer Sitzreihen stellt sich ein Gefühl früherer Zeiten und Erfolge im Tanzhaus NRW ein. Gut so.

Michael S. Zerban