Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CLAIR OBSCUR QUARTETT
(Diverse Komponisten)
Besuch am
15. Juni 2023
(Einmalige Aufführung)
Schöne neue Welt in der Kultur. Die Künstler werden immer besser, die sie umgebenden Blasen sind dagegen häufiger mit der Atomisierung der Gesellschaft beschäftigt, anstatt die Künstler zu unterstützen. Das Schumannfest, das derzeit in Düsseldorf von der Tonhalle veranstaltet wird, gibt wieder einmal ein prägnantes Beispiel dafür. Bei einem solchen Festival darf man eigentlich davon ausgehen, dass die öffentlich bezahlten Beschäftigten alles daran setzen, eine perfekte Organisation abzuliefern. Da sollte a priori überhaupt keine Zeit sein, ideologische Sprachausrutscher beispielsweise auf der hauseigenen Netzseite zu formulieren. Die Mitarbeiter sind da offensichtlich anderer Meinung. Und da kann es ja dann auch schon mal passieren, dass niemandem auffällt, dass der Abendzettel eines Konzerts um mindestens vier Monate veraltet ist.
Fairerweise muss man sagen, dass das Clair Obscur Quartett nicht gerade mit vorauseilender Kommunikation glänzt. Sind die ersten Jahre des Saxofon-Quartetts aus Berlin hervorragend im Internet dokumentiert, scheint es in den vergangenen Jahren andere Prioritäten gegeben zu haben. So ist nachzulesen, dass die Musiker dereinst als erstes Saxofon-Quartett zum Kammermusik-Examen an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ zugelassen wurden, daraufhin eine explosionsartige Karriere begann, die im Grunde bis heute anhält. Dass sich Gründungsmitglied Jan Schulte-Bunert vor vier Monaten von der Gruppe verabschiedete, um andere Wege zu gehen, bleibt vom Management ebenso unerwähnt wie der Einstieg seines Nachfolgers als Sopransaxofonist, Carlos Giménez Martínez. In Valencia geboren, studierte der heute 30-Jährige klassisches Saxofon zunächst in Spanien, später in Holland. Nach vielen Jahren des Studiums in Amsterdam bewarb er sich bei Clair Obscur und zog nach Berlin. Das ging am Schumannfest mal ganz gemächlich vorbei. Und so gibt es an diesem Abend einen Programmzettel, wie er im Konzertbetrieb schon ganz gewöhnlich erscheint: Vollkommen veraltet.
Carlos Giménez Martínez – Foto © Leonard Jüngermann
Glücklicherweise kann man den Abendzettel erst am Aufführungsabend in Empfang nehmen. Und so ist der Kammermusiksaal der Tonhalle, der Helmut-Hentrich-Saal, bis auf den nahezu letzten Platz gefüllt, weil die Besucher von der Vorstellung beseelt zu sein scheinen, von einem Saxofon-Quartett wirklich ungewöhnliche Musik zu hören. Das ist nicht zu weit hergeholt. Kathi Wagner tritt mit einem Bariton-Saxofon auf, Christoph Enzel, der auch für die Arrangements zuständig ist, bringt ein Tenor-Saxofon mit. Das Altsaxofon von Maike Krullmann wird für eher warme Töne sorgen. Und mit mehreren beachtenswerten Soli macht eben Giménez auf sich aufmerksam, der an diesem Abend als neues Quartett-Mitglied vorgestellt wird.
Sehr schön ist, dass die Musiker die Stücke, die sie aufführen, kurz vorstellen. Und so erfahren die Besucher von den lange nicht mehr gespielten Ausschnitten aus Alexander Glasunows Saxofon-Quartett in B-Dur opus 109, den Canzona varièe. Und wenn man hier den Bezug zu Robert Schumann sucht, findet man ihn in der dritten Variation, die à la Schumann bezeichnet ist. Nach einem eher getragenen Beginn zeigen Clair obscur die Eleganz eines Kanons, um schließlich verspielt mit einem Scherzo zu enden. Weiter geht es tatsächlich mit Werken Schumanns, auch wenn höchst zweifelhaft ist, ob der Komponist das Instrument überhaupt kannte. „Aber“, da ist sich Enzel sicher, „wenn er es gekannt hätte, hätte er es für uns geschrieben“. Gemeint ist das Album für die Jugend, ein aus 43 Klavierstücken bestehender Zyklus aus dem Jahr 1848, aus dem nun der Arrangeur und seine Kollegen kurze Stücke vortragen: Ohne Titel, Mignon, Matrosenlied und die Kleine Fuge gehören dazu. Sehr weich, fast schön träumerisch klingt das, was Enzel da für sein Instrument übersetzt hat.
Kontrastreicher kann der Wechsel zu den nächsten Stücken wohl kaum ausfallen. Denn auf dem Zettel steht nun kein Geringerer als Chick Corea. Vor zwei Jahren ist der Jazz-Pianist im Alter von 79 Jahren verstorben, der als einer der Gründerväter des Jazz-Rock gilt. Da wird die Überleitung schon fast abenteuerlich. Hat eigentlich irgendjemand die Berliner gezwungen, einen Bezug zu Schumann herzustellen? Hier also wird der Umstand herangezogen, dass Schumann ja Kinderlieder geschrieben habe. Und Chick Corea auch. Wow. Allerdings letzterer dann nicht über Kinder, sondern aus der Sicht von Kindern. Und die sieben Stücke klingen dann tatsächlich so, als seien sie für Saxofon komponiert. Zumindest sorgt Enzel dafür. Es wird ein wahres Klangerlebnis, bei dem man zu hören glaubt, wie ein kleiner Steppke sich fast schon minimalistisch durch die Großstadt bewegt; begleitet von Autohupen, Martinshörnern und dem allgemeinen Verkehrsrauschen entdeckt er mit großen Augen eine immer neue Welt, hält inne, um zu staunen, ehe er ins nächste „Abenteuer“ aufbricht. Großartig, was das Quartett da zustande bringt.
Christoph Enzel – Foto © Leonard Jüngermann
Nach einer Pause, in der das Großstadtabenteuer noch etwas nachklingen darf, und einer Fantasie, die die 20-jährige Clara Schumann „ihrem Robert“ ursprünglich auf dem Klavier zueignete, geht es nach Frankreich. Hier stellte Maurice Ravel 1917 sein sechssätziges Klavierwerk Le tombeau de Couperin – das Grabmal Couperins – fertig, aus dem er später eine viersätzige Orchester-Fassung schuf. Die wiederum erlangte größere Bekanntheit als Arrangement für Bläserquintette. Im Hentrich-Saal erklingen die vier Sätze nun in der Einrichtung für die Saxofone, deren Besitzer alles daransetzen, die bekannte Musik schön, besser und neuer erklingen zu lassen, was ihnen ohne Zweifel gelingt. Übertrumpft werden kann dieser Genuss nur noch vom Meister des Tangos.
Glücklicherweise ertönt der Name Astor Piazzollas immer häufiger auch auf deutschen Konzertpodien, ist er den Klassikern zumindest für jüngere Ohren emotional oft überlegen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Suite del angel, die Engelssuite. Daraus hat Enzel drei Sätze für Saxofon eingerichtet – und die Musik klingt auch diesmal, als sei sie nie für ein anderes Instrument erdacht worden. Mit dem Tod des Engels geht eine wahre Synkopenflut über das Publikum hernieder, das sich nicht anders zu helfen weiß, als seiner Begeisterung mit einem Zwischenapplaus Luft zu verschaffen. Der Tanz des Engels, die Milonga, klingt nach einer sanften Welle an- und abschwellender Klagegesänge, ja, man sieht den Engel förmlich niedersinken. Und da ist es doch prima, dass Engel zur Wiederauferstehung neigen. Die wird im dritten Satz mit vielen Sehnsuchtsanklängen zelebriert. Einen schöneren Ausklang könnte man sich kaum vorstellen. Oder doch. Die Sitznachbarin träumt von Libertango als Zugabe. Ganz so bekannt wird es dann zwar nicht, aber mit der Milonga pittoresca ist sie dann ebenso zufrieden wie der Rest des Publikums. Über den frenetischen Jubel am Ende scheint das erfolgsverwöhnte Quartett selbst ein wenig überrascht. Aber warum nicht? Verdient haben die vier sich das allemal.
Michael S. Zerban