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Aktuelle Aufführungen

Der Trost bleibt aus

BRAHMS-REQUIEM
(Johannes Brahms)

Besuch am
19. November 2023
(Premiere am 18. November 2023)

 

Stephanuskirche, Düsseldorf

Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms ist bei Chören sehr beliebt. Man kann mit vielen Choristen beeindrucken, kommt aber mit zwei Solisten aus. Außerdem ist das „Brahms-Requiem“ nach wie vor ein Publikumsmagnet. Sein großer Erfolg liegt vermutlich darin begründet, dass das Werk nicht den Leidensweg Christi nachzeichnet, sondern ein Chorwerk ist, das Trost für die Hinterbliebenen bieten soll. „Es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend“, schwärmte einst Clara Schumann über die Komposition ihres Freundes. Dem möchte man nur bedingt zustimmen. Damit sich der Zauber entfalten kann, ist die Voraussetzung eine exzellente Aufführung.

Rolf A. Scheider – Foto © O-Ton

In Erwartung einer solchen Aufführung stürmten die Menschen bereits am Vortag in die Johanneskirche, wo der Chor der Kantorei an der Stephanuskirche zusammen mit dem Tao-Chor das Requiem zum ersten Mal zu Gehör brachte. Man konnte erst eine Viertelstunde später beginnen, weil vorher all die Besucher untergebracht werden mussten, ist zu hören. Jetzt, am Sonntagnachmittag, herrscht ein ähnlicher Andrang vor der Stephanuskirche.

Die Kirche liegt im Stadtteil Wersten in einem Wohngebiet. 1958 wurde sie eingeweiht. Als einschiffige Hallenkirche gebaut, bietet sie etwa 600 Menschen Platz und ist an Schlichtheit selbst für evangelische Verhältnisse kaum zu übertreffen. Eine Empore zieht sich bis etwa in die Hälfte des Schiffs. Freie Plätze gibt es zu Beginn der Aufführung nicht mehr. Programmhefte sind in ausreichender Anzahl vorhanden, so dass die Besucher die Gesangstexte problemlos mitlesen können.

Um auf die nötige Stärke zu kommen, hat der Chor der Kantorei an der Stephanuskirche sich mit dem Tao-Chor zusammengeschlossen, einer Chorgemeinschaft, die 1991 gegründet wurde und ihren Probenraum über einer Tao-Buchhandlung hatte. Etwa 80 Musiker bringen die Heinrich-Heine-Symphoniker in das Orchester ein, 1993 von ehemaligen Mitgliedern des Universitätsorchesters gegründet. Da entsteht erst mal ein eindrucksvolles Bild, wenn all die Menschen sich gleichzeitig im Altarraum versammeln.

Julia Hagemüller – Foto © O-Ton

Die musikalische Leitung an diesem Nachmittag übernimmt Markus Maczewski. Nach dem Studium der Kirchenmusik an der Robert-Schumann-Hochschule begann er seine berufliche Laufbahn als Kantor in Oberhausen-Osterfeld. Seit 23 Jahren leitet er den Tao-Chor. Also wenigstens einen Teil der Choristen sollte er über die Probenphase hinaus gut kennen. Aber entweder mit dem Chor oder mit der Partitur hat er sich anscheinend zu wenig auseinandergesetzt. Akzente oder Transparenz, also das, was die Feinheit ausmacht, was das Requiem bewirken kann, bleiben außen vor. Zum Tempo hat der Dirigent eine ganz eigene Ansicht. Das führt dazu, dass der Chor zeitweise in Zeitlupe zu singen scheint. Dabei mangelt es den Chorsängern nicht an Einsatzfreude. Treibt der Gesang einem Höhepunkt entgegen, ist davon in der letzten Reihe unter der Empore nurmehr Klangbrei zu erleben. Dafür gibt es dort reges Treiben an der Eingangstür. Sie haben sich verspätet? Macht doch nix. Kommse rein. Sie möchten mal auf Toilette? Gern. Hier entlang. Und vergessen Sie nicht wiederzukommen.

Eine herausragende Rolle gesteht Maczewski dem Paukisten zu, der sich so richtig austoben darf. Erfreulich, dass das Orchester ansonsten seiner Aufgabe nachkommt und den Chor nach Kräften, aber ohne Übertreibung unterstützt. Ein echter Lichtblick sind die bekanntlich vergleichsweise kurzen Auftritte der beiden Solisten. Eingeladen sind Bass-Bariton Rolf A. Scheider und Sopran Julia Hagemüller. Beide begeistern. Der eine mit balsamischer Stimme, die andere mit sauberen Spitzentönen. Und es ist sehr schön, dass die Besucher zu Beginn gebeten wurden, zwischen den Sätzen nicht zu klatschen, denn bei beiden solistischen Auftritten hätte sich sonst wohl kaum jemand zurückgehalten.

So ist der Jubel nach dem vielleicht längsten Brahms-Requiem, das je aufgeführt wurde, umso größer. Das tröstliche Gefühl, das sich nach einer wirklich guten Aufführung tatsächlich einstellen kann – und insofern hat Clara Schumann recht – muss heute ausbleiben. Das ist umso bedauerlicher, als die Chorsänger, die in die Vorbereitung mit Sicherheit viel Arbeit gesteckt haben, das Potenzial mitgebracht haben, das sie nicht ausschöpfen dürfen.

Nach dem Abend steht fest, dass es für das zu Ende gehende Jahr mit kirchenmusikalischen Ausflügen reicht.

Michael S. Zerban