O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Unter die Haut

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)

Besuch am
19. April 2022
(Premiere)

 

Robert-Schumann-Hochschule, Partika-Saal, Düsseldorf

Nach drei Jahren soll es endlich wieder so weit sein. Die Opernklasse der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf kündigt eine neue Opernproduktion an. Und die lässt einen erst mal aufhorchen. La bohème von Giacomo Puccini auf die Bühne zu bringen, haben viele versucht, aber die wenigsten haben eine begeisternde Geschichte verwirklichen können. Zu oft wird das Werk dazu genutzt, profilierungssüchtige Sänger in den Vordergrund zu schieben. Welcher Sopran singt die Mimì am besten, welcher Tenor will sich mit Rodolfo Lorbeeren verdienen? Da wirkt die Oper oft nur wie eine Schablone. Dabei hat sie es wirklich in sich. Neben anspruchsvollen Gesangspartien gilt es, ein Lebensbild zu zeichnen, junge Menschen zu zeigen, die viel zu früh gezwungen sind, Lebenserfahrung zu sammeln, die nicht von Wohlstand und sozialer Absicherung gezeichnet ist. Da braucht es Personal, das nicht nur Jugendlichkeit, sondern auch Todeserfahrung auf die Bühne bringt. Thomas Gabrisch, seit 1997 Professor für die Opernklasse, entschied, dass die Hochschule über ausreichend geeignetes Personal für diese Aufführung verfügt und man das Wagnis einer solchen Inszenierung angehen könne. Junge Leute, die die Bohème aufführen, das ist eigentlich ein Traum. Aber wenn er denn Wirklichkeit zu werden droht, möchte man doch erst mal Bedenken anmelden. Die lässt Gabrisch nicht gelten.

Mit Ansgar Weigner gewinnt der Professor, der bei den Produktionen die musikalische Leitung übernimmt, einen Regisseur, der gern erst mal die Partitur liest, ehe er der Fantasie freien Lauf lässt. Weigner braucht keine Skandale, er will das Publikum vom Werk begeistern. Und bei der Bohème, die er zum ersten Mal inszeniert, findet er, dass es keine großartigen Einfälle braucht, weil eigentlich schon alles minutiös aufgeschrieben ist. Eine saubere Umsetzung, glaubt er, reicht vollkommen aus, die Menschen in die Tiefe des Werks eintauchen zu lassen. Dieser Auffassung schließen sich auch die Studenten nach den ersten Proben an. Eine gute Ausgangsbasis, um die altbekannte Geschichte zu erzählen, die hier nur umrissen werden soll.

Eine Künstler-WG kommt unverhofft zu etwas Geld und beschließt, es für eine Weihnachtsfeier außerhalb ihrer Mansarde auszugeben. Rodolfo, der Schriftsteller, will den anderen etwas später folgen, weil er noch ein paar Zeilen schreiben will. Anstatt zu schreiben, öffnet er der Näherin Mimì die Tür, die auf der Suche nach Feuer ist. Feuer gibt es in doppelter Hinsicht. Die beiden schließen sich den anderen Künstlern an, die sich im Café Momus im Quartier Latin versammeln. Musetta kommt hinzu. Es gibt allerlei Liebeswirrwarr, ehe sich die Klammer schließt und alle Beteiligten wieder in der Mansarde zusammenfinden, wo Mimì stirbt.

Weigner verzichtet auf Chi-Chi, er will so nah wie möglich an den Jugendlichen dranbleiben, möglichst lebensechte Bewegungsabläufe zeigen. Da dürfen sich die Sänger ansingen, die Rampe bleibt so gut wie leer. Das funktioniert wunderbar. Die Bühne wird auch in diesem Jahr von der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg gestaltet. Robert Schrag hat eine riesige Hintergrundfläche geschaffen, die mit Fassaden bemalt ist. Erst nach und nach zeigt diese Fläche ihre Raffinesse, wenn sich Auf- und Abgänge eröffnen, in der Mitte eine Nische zeigt, in der noch ein Bett vor einem Fenster mit Blick auf Paris untergebracht ist. In der Bühnenmitte gibt es einen Tisch, ein paar Stühle, rechts vorn einen Ofen. Beim Bildwechsel wird die Nische geschlossen, ein paar Bistrotische mit Bestuhlung deuten das Café Momus an. Die Galerie wird hinter diesem Hintergrund verborgen, aber in die Handlung einbezogen. So eröffnet sich eine riesige Spielfläche, die der Regisseur ordentlich zu nutzen weiß. Stefanie Salm ist für die Kostüme zuständig, die in großen Teilen so wirken, als habe die Künstlerin im besten Sinne in einem Second-Hand-Laden gründlich zugeschlagen. Es ist eine gute Mischung aus Vintage, die die Jugendlichen kleidet, und historischer Anmutung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einzig mit dem Kostüm von Mimì geht es gründlich schief. Weigners Idee dabei ist völlig klar. Mimì ist nicht von Anfang an das schwindsüchtige Mädchen, das dem Tod geweiht ist, sondern eine lebenslustige, fröhliche Person, die ihr gesamtes Umfeld zu begeistern weiß. Aber deshalb muss man sie nicht als rosafarbenes Bonbon mit trutschiger Perücke auftreten lassen. Das ist mehr als eine Spur zu viel und der Darstellerin beileibe keine Hilfe. Das ändert sich auch später nicht, wenn Mimì im Sonnenblumenkleid zu Tode kommt. Ja, aus dem Frühling des Lebens gerissen, haben wir verstanden. Hätte aber auch mit einer Nummer kleiner funktioniert. Auch Volker Weinhart reitet der Beelzebub. Ob er zwei neue Scheinwerfer geschenkt bekommen hat, die er nun partout ausprobieren will, sei dahingestellt. Aber die Idee, die Lichtkegel blendend durch das Publikum auf einen Hot Spot der Bühne rollen zu lassen, ist, gelinde gesagt, überflüssig. Ansonsten erweist sich Weinhart als das, wofür er bekannt ist: als Meister der Ausgewogenheit.

Eigentlich eine gute Idee ist, die Handlung in kurzen Texten vorweg verlesen zu lassen. Dazu hat Ursula Hesse von den Steinen, die „neue“ Gesangsprofessorin an der Musikhochschule, die Texte eingesprochen. Geschmälert wird die Idee durch die absolut miserable Akustik, mit der die Stimme erklingt. Da wäre den Technikern mehr zuzutrauen gewesen. Auch Agnes Konnerth könnte die kommenden Tage noch einmal nutzen, um ihre Übertitel zu überarbeiten. Da wird sie sicher den einen oder anderen Fehler noch ausmerzen können. Und damit ist der letzte Kritikpunkt des Abends erwähnt.

Ab jetzt geht es rasant zu den Superlativen. An erster Stelle ist da Julia Wirth zu nennen, die das Bonbonfarbene übersingen muss. Sie kommt, wie fast alle anderen Sänger des Abends, aus der Gesangsklasse von Konrad Jarnot. Stimme und Darstellung überwältigen. Sie prägt den Verismo des Abends. Glasklare Stimme, die in den Höhen so verständlich bleibt wie in den Brusttönen, ohne jede Unsicherheit ist sie nichts anderes als eine junge Mimì, die vom Leben nicht viel erwartet, aber mit sprühender Lebensfreude auf schöne Ereignisse reagiert. Wirth überzeugt als frisch Verliebte wie als Sterbende in jedem Moment. Sie ist der Mittel- und Glanzpunkt des Abends, ohne die Leistungen anderer zu schmälern. Auf gleichem Niveau fasziniert Pauline Gropp aus der Gesangsklasse Hesse von den Steinen als Musetta. In den Höhen lässt sie aufhorchen, und ihr Gebet am Bett von Mimì rührt ans Herz. Jakob Kleinschrot hat Rodolfo verinnerlicht. Selten hat man ihn so glaubwürdig gesehen. Das gilt auch für die übrigen Künstler. George Clark als Marcello, George Gamal Mohareb als Schaunard und Valentin Ruckebier mit wunderbarem Bass als Colline. Der Sänger, der bereits ein Kompositionsstudium abgeschlossen hat und neuerdings im Opernstudio der Rheinoper reüssiert, ist sicher nicht der einzige Grund, warum Christoph Meyer, Intendant der Rheinoper, und Eva Hölter, organisatorische Leiterin des Opernstudios, den Abend interessiert verfolgen. Schließlich empfehlen sich hier und heute mindestens vier Nachwuchssänger, sie dringend im Auge zu behalten.

Genau im Auge behält auch Gabrisch Orchester, Chor und Sänger. Schätzungsweise vier Wochen ist es her, dass das Orchester zum ersten Mal zusammengetreten ist. Dafür ist die Leistung des Abends beachtlich. Gabrisch dirigiert filigran, produziert feine Klangfarben, exakte Effekte und lässt die Sänger dabei keinen Sekundenbruchteil allein. Hier hat jemand Puccini genau verstanden. Und unterstreicht damit das Geschehen auf der Bühne so weit, dass hier auch nach der Pause niemand fragt, wann denn die Mimì endlich stirbt, sondern manche Träne aus dem Augenwinkel fließt, wenn die große Stille nach ihrem Tod überraschend eintritt.

Das Publikum im bis auf den letzten Stuhl vollbesetzten Saal feiert alle Akteure des Abends gleichermaßen, weil es eine so geschlossen wunderbar funktionierende Darstellung der Bohème lange nicht gesehen hat. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass manche Bühne mit Millionen-Etat an diesem Abend neidvoll nach Düsseldorf blicken darf. Vier weitere Vorstellungen sind mit wechselnden Darstellern vorgesehen, die allerdings schon samt und sonders ausgebucht sind. Der Nachwuchs darf stolz auf sich sein.

Michael S. Zerban