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Thalbachs Märchenstunde

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Gesehen am
30. Mai 2020
(Video on demand)

 

Semperoper, Dresden

Ja ist denn heut schon Weihnachten? Das hat sich so mancher gefragt, als auf dem Online-Spielplan des Formats „Semperoper Zuhause“ Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel zu Pfingsten ausgestrahlt wurde, denn klassischerweise wird dieses Werk in der Vorweihnachtszeit aufgeführt. Die Premiere dieser Inszenierung von Katharina Thalbach war am 9. Dezember 2006, und die Aufzeichnung war ebenfalls im Dezember 2006. Dennoch ist vor allem die schon fast Wagnersche Musik es wert, dieses Werk auch zu anderen Zeiten zu spielen.

Einer der geheimnisvollsten Sätze in der Märchenoper Hänsel und Gretel lautet: „Weißt du, was der Wald jetzt spricht?“ Die Dämmerung senkt sich, und es rauscht in den Bäumen, und die Kinder fürchten sich. In den Hörnerklang der Partitur von Engelbert Humperdinck mischt sich eine Solovioline. Gespenstisch sieht er aus, der deutsche Wald, wo gute und böse Geister in derselben Lichtung auftreten. Katharina Thalbach, vom Hauptberuf Schauspielerin, hat das Märchen aufgepeppt auf die Bühne gebracht und dabei tief in die Märchenbücher der Gebrüder Grimm geschaut. Herausgekommen ist ein moderner Märchenwald, gestaltet von dem Maler, Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti. Die Welt des Kindes und die des Theatermachers berühren sich in dieser Szenerie, deren Überraschungen von einer schlichten Kreidezeichnung ihren Ausgang nehmen: das Haus des Besenbinders Peter. Ein Schattenspiel während der Ouvertüre zeigt, dass die Ortsangabe „Daheim“ über dem ersten Bild des Librettos von Adelheid Wette eine nette Verharmlosung ist: Es herrschen Kinderarbeit und Armut. Der heimkehrende Peter ist eigentlich ein lieber Vater, an dessen Ohr ein Ring aus besseren Tagen glänzt und der lautstark seine Freude über die verkauften Besen zum Ausdruck bringt.

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Der orchestrale „Hexenritt“ wird als subtil belebter Schattenriss dargestellt, durch die Lichtregie von Jan Seeger kindlich-märchenhaft in Szene gesetzt. Und jetzt folgt Thalbachs Märchenstunde, ein Auszug aus Grimms Märchenwelt: Im Märchenwald, da hausen die Gummibärchen hinter schwarzen Bäumen aus Stoff. Und eine gefährliche Zuckerstangenschlange windet sich. Der böse Wolf lässt sich vom betrunkenen Rotkäppchen den vergifteten Apfel andrehen, der für Schneewittchen bestimmt ist, die mit ihren Zwergen quicklebendig herumturnt. Und eine hochbetagte Hexe fliegt dann auch noch durch die Luft. Alles in Katharina Thalbachs Hänsel-und-Gretel-Inszenierung an der Dresdner Semperoper entstammt dem Opernsetzkasten für die kinderfreundliche Familienvorstellung. So wie das Besenbinderhaus mit den Folklore-Eltern zu Beginn. Wer Hunger hat, beißt in den Schuh. Ist mal was anderes. Wo die existenzielle Bedrohung von Kindern zumindest mitschwingt, bebildert Ezio Toffolutti lediglich eine solche durch zu viele Süßigkeiten. Die Zahnbürste haben Hänsel und Gretel selbstverständlich aber immer griffbereit dabei. Das Sandmännchen ist geklaut beim Deutschen Fernsehfunk der DDR, das Taumännchen erscheint als moderne Eisprinzessin. Die Traumpantomime nach dem Abendsegen mit dem Erscheinen der vierzehn Engel ist normalerweise der musikalische und szenische Höhepunkt dieser Oper. Katharina Thalbach verabschiedet sich hier von einer religiösen Bedeutung der Schutzengel und zeigt dafür eine zirkusreife Engelpantomime, die aus alten Märchen und moderner Kinderfantasie zusammengefügt ist. Eleven tanzen, dem Theater wachsen Flügel, Wolf und kleiner Engel ziehen den Vorhang zu. Eine schön anzusehende Performance der Tänzer und Tänzerinnen der Palucca-Hochschule für Tanz in Dresden, für die vielen kleinen Kinder in dieser Aufführung aber schwer verständlich, wenn sie auf die „klassischen“ Englein gewartet haben. Doch Thalbach frönt hier ihrer eigenen Kinderfantasie, lässt eine Riesenschildkröte als „Ilsenstein“ markieren, und das Hexenhaus besteht aus großen Bahlsen-Butterkeksen ohne „Leibniz“-Druck. Und die Hexe ist zunächst auch ganz modern. Ein burlesquer Vamp in Rot, eine verführerische Rosina Leckermaul. Doch dann gibt sie entlarvend den kahlen Kopf unter der Perücke preis, um immer hexenhafter und hässlicher zu werden. Natürlich lockt sie mit viel Zucker, Teddys und grüner Götterspeise die Kinder in ihr Reich. Das Bahlsen-Hexenhaus wird dann zum glutroten Backofen, in dem die Hexe natürlich hineingestoßen wird. Da es kein Pfefferkuchenhaus war, können am Schluss die Kinder auch nicht als Lebkuchenkinder erscheinen, die vom Hänsel aus ihrer Schockstarre erlöst werden. Dafür sind es große Bonbons, aus denen sich die erlösten Kinder lautstark schälen und einen großen Haufen Plastikmüll hinterlassen, der von Hänsel und Gretel aber ganz artig eingesammelt wird. Hänsel und Gretel aber kehren nach ihrem Sieg über die Hexe nicht zurück in die Realität des „Daheim“ bei ihren Eltern, sondern entscheiden sich aus freien Stücken für die Welt der Fantasie, der Utopie, der Märchen und des Theaters und verschwinden wieder im Märchenwald.

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Musikalisch und sängerisch gibt es nun wirklich nichts zu mäkeln. Antigone Papoulkas weiß als Hänsel zu überzeugen, ihr kräftiger, warmer Mezzosopran ist ideal gelegen für die Partie. Mit großer Spielfreude zeigt sie die Facetten eines Lausbuben, die einfach zu dieser Partie gehören. Anna Gabler singt die Partie der Gretel mit schönem, lyrischem Sopran, der in den Höhen schon einmal dramatisch ausbrechen darf, und gestaltet die Partie mit mädchenhaft naivem Spiel. Der gesungene Abendsegen zusammen ist sehr innig gestaltet, musikalisch einer der Höhepunkte des Abends. Einen wunderbaren Kontrast bilden in dieser Aufführung die Eltern. Irmgard Vilsmaier ist von ihrer Bühnenpräsenz und ihrer Ausstrahlung der Prototyp der verhärmten Mutter, die schimpft, keift und schließlich vor Sorge und Kummer fast erschöpft zusammenbricht. Ihr dramatischer Sopran hat genau die Schärfe und das Vibrato, dass für diese Rolle erforderlich ist. Hans-Joachim Ketelsen verkörpert mit warmem Bariton und freundlichem Spiel eher den milden, sanften Besenbinder Peter, dem das Wohl seiner Kinder doch sehr am Herzen liegt. Iris Vermillion ist eine Knusperhexe wie aus dem Märchenbuch. Sie bringt als schon fast dramatischer Mezzosopran alle stimmlichen und spielerischen Elemente mit und setzt sie mit so großer Spielfreude um. Mit leuchtend hellem und klarem Sopran streut Lydia Teuscher als Sandmännchen nicht nur den Kindern Sand in die Augen, sondern weckt sie mit strahlender Höhe als Taumännchen wieder auf.

Michael Hofstetter dirigiert die Sächsische Staatskapelle Dresden mit melodischem Tiefgang und ziemlich flottem Tempo. Die köstliche Naivität der Melodik, die Polyphonie, die Richard Strauss in seinem Brief an Engelbert Humperdinck so plastisch beschrieben hat, arbeitet Hofstetter schön heraus, schwelgt in den großen, fast Wagnerschen Orchesterszenen, und nimmt das Orchester in den getragenen Momenten wie dem Abendsegen gut zurück. Die Bonbon-Kinder, Mitglieder des Kinderchores der Semperoper, sind von Andreas Heinze gut eingestellt und dürfen am Schluss wieder quicklebendig auf der Bühne herumtoben. Das Publikum ist am Schluss durchweg angetan von der Inszenierung, auch wenn es Katharina Thalbach mit ihrer Märchenstunde manchmal etwas übertrieben hat.

Andreas H. Hölscher