O-Ton

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Ewiglich bös

DER FREISCHÜTZ
(Carl Maria von Weber)

Besuch am
18. Juni 2021
(Premiere am 1. Mai 2015/Stream)

 

Semperoper Dresden

Am 18. Juni 1821 wurde der Freischütz von Carl Maria von Weber in Berlin uraufgeführt. Zum 200. Geburtstag dieses historischen Tages zeigt die Semperoper Dresden, die mit dem Komponisten und der Rezeptionsgeschichte des Werkes eng verbunden ist, die letzte Produktion dieser Oper an der Semperoper, die im Mai 2015 in einem Livemitschnitt von Unitel aufgezeichnet wurde. In dieser nach wie vor aktuellen Inszenierung verortet Regisseur Axel Köhler, der übrigens seit Beginn des Studienjahres 2019/2020 Rektor der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden ist, die Geschichte um den Jägersburschen Max, seiner Verlobten Agathe und den zwielichtigen Kaspar in die Zeit nach dem Kriegsende, nach totaler Zerstörung. Es ist eine Welt, in der Aberglaube und menschliche Abgründe und Schrecklichkeiten wieder möglich sind.

Köhler stellt Ängste und Aberglauben der Figuren in den Vordergrund, die sich in ihrem Handeln vom Glauben an Gott und Teufel beeinflussen lassen. Er beschreibt eine bürgerliche Gesellschaft mit bürgerlichen Idealen, unter deren Dekoration das Grauen lauert. Eine Gesellschaft, die durch den Einbruch des Aberglaubens und der Angst vor dem Bösen einen Rückschritt erleidet. Die Romantik des Freischütz wird auf verschiedenen Ebenen betont: In der Naturromantik des Jägerlebens, der Liebesromantik zwischen Agathe und Max und der Schauerromantik der Samiel-Handlung, dabei ist dem Regisseur ein ausgewogenes Verhältnis von märchenhafter Zauberei und kritischen Gesellschaftsbildern wichtig. Und so zeigt Köhler das Bild einer orientierungslosen Gesellschaft, die in Ritualen und Hierarchien nach Halt sucht. Vor dem vermeintlich glücklichen Ausgang der unheimlichen Geschichte über Versagensängste, gesellschaftliche Zwänge und individuelle Glücksansprüche tun sich Abgründe auf, und die Macht des Bösen scheint zu triumphieren.

Da ist Max, von dessen traditionellem Probeschuss seine ganze bürgerliche Existenz und sein Liebesglück abhängen und der den alleinigen Ausweg im Pakt mit dem Teufel sieht. Köhler charakterisiert ihn als zweifelnde Persönlichkeit, als ein Außenseiter, der kein heldenhafter Jägersbursche ist, sondern ein gehemmter, verängstigter, ja fast paranoid wirkender Einzelgänger. Den Pakt mit dem Teufel hat Kaspar längst geschlossen, desillusioniert und zerstört von Lebenserfahrungen und Kriegserlebnissen, die einen jungen Menschen überfordern müssen. Und auch die Max versprochene Agathe muss ebenso wie ihr Bräutigam mit der bangen Frage leben: „Verfiel ich in des Zufalls Hand?“ Daher versucht auch sie verzweifelt, sich nicht völlig den Irrungen und Wirrungen des Schicksals ausgeliefert zu sehen. Sie scheint die einzige zu sein, die realistisch die Situation erfasst und Stärke aus ihrem unerschütterlichen Glauben zieht, während Ännchen mit ihrer naiven, aber stets optimistischen Stimmung den Kontrapunkt setzt.

Das Bühnenbild von Arne Walther zeigt eine kaputte Wand einer alten, wohl durch den Krieg zerstörten Villa statt eines einfachen Forsthauses, die den Blick auf die kahlen Stämme eines Waldes freigibt. Das Haus ist schlicht und altmodisch möbliert. Agathes Schlafzimmer befindet sich über einem düsteren Erdgeschoss, und die Wolfsschlucht wird hier zu einem wirklich schauerlichen Ort, wo nach gelungenem Freikugel-Guss Gestalten aus Not und Tod auftauchen als Erinnerung an die Ereignisse des Krieges, wo eine mörderische Schlacht an dieser Stelle getobt haben könnte. Gewalt ist allgegenwärtig. Sie beginnt mit einem ziemlich brutalen Kampf zwischen Kilian und Max, bei dem die Bauern gleich mitraufen und gipfelt in der Wolfsschlucht-Szene, wenn, neben einigen erhängten Leichen, Kaspar mit einem großen Messer einen Kopf vom Rumpf eines Toten abtrennt, bevor er Freikugeln gießen kann. Raffinierte Verschiebungen wie das Auseinanderdriften der beiden Ebenen von Agathe und Max, bevor dieser in die Wolfsschlucht aufbricht, gelungener Einsatz von Bühnentechnik, viel Dampf und ausgiebige Licht- und Schatteneffekte mit Blitzen lassen den Spannungsbogen hoch halten. Fabio Antoci ist für das Lichtdesign verantwortlich.

Der Sturm in der Wolfsschlucht tobt bis in die Halle der Villa, wo zu Beginn des dritten Aktes Stühle und Sofa umgeworfen sind und größere Äste auf dem Boden liegen. Die Kostüme von Katharina Weissenborn zeigen ein dörfliches Jägermilieu des frühen 20. Jahrhunderts. Als zusätzliche Charakterstudie wurde die stumme Rolle der hinkenden Magd eingeführt. Von Geburt an behindert oder vom Krieg versehrt, tut sie alle schwere Arbeit im Haus, von niemand weiter beachtet, als einmal von Kaspar, der nach derber Männerart in typischer Großtuerei bei ihr als Magd, die den Wein bringt, in üblicher Weise zudringlich wird. Als er, von der Freikugel getroffen, stirbt, wendet sie sich in zaghafter Zuneigung ihm zu und wird als „Sündenbock“ von den Dorfbewohnern davongejagt. Stand auch sie mit Samiel im Bunde? Eine kleine, aber typische Charakterstudie am Rande der Handlung.

Am Schluss, nachdem die Musik schon zu Ende ist, übergibt Ottokar einem Kind ein Gewehr und lässt einen Schuss abfeuern. Geht doch alles wieder von vorne los und der Probeschuss wird doch nicht abgeschafft? Köhler lässt mit dieser offenen Frage viel Interpretationsspielraum.

Die Sängerdarsteller leben diese starke Inszenierung, da sie dem Regiekonzept von Axel Köhler uneingeschränkt folgen.  Michael König in der Rolle des Max hat die strahlende Höhe eines Heldentenors, um auch die dramatischen Ausbrüche zu stemmen, ohne dabei auch nur einen Hauch zu wackeln. Spielerisch ist König nicht der jugendliche Draufgänger, mehr der zurückhaltende kopfgesteuerte Analytiker in abgehalfterter Uniform, was sein Spiel manchmal etwas schwerfällig und steif erscheinen lässt. Kongenial grandios sein Widerpart Georg Zeppenfeld als Kaspar. Von seiner Stimmlage mehr der Eremit, zeigt er, wie facettenreich sein Stimmumfang und seine schauspielerische Darbietung ist. Mit unbändiger Kraft tritt er auf, versprüht in seinem schwarzen Partisanenoutfit eine dämonische Aura um sich, und leidet so tief in dieser Rolle, dass man in der Wolfsschlucht-Szene fast Angst um ihn bekommt. Sein hoher Bass hat die richtige Schwärze und Ausdruckskraft, die diese Partie abverlangt. Ganz klar eine Idealbesetzung dieser Rolle, am Schluss vom Publikum stürmisch gefeiert. Sara Jakubriak gibt die Agathe mehr träumerisch, schwermütig und überzeugt vor allem mit zarten Piano-Tönen in ihrer großen Arie, während sie spielerisch insgesamt etwas blass bleibt. Ganz anders das Ännchen von Christina Landshamer, die vor Energie und Spielwitz nur so sprüht und mit ihrem schlanken Sopran beim Publikum groß abräumt. Andreas Bauers später Auftritt als Eremit, auch er mit zerschlissenem Militärmantel, ist wie eine Erscheinung. Schon seine dominante physische Ausstrahlung ist bezeichnend, und sein großer balsamischer Bass macht die Eremitenszene zu einem besonderen musikalischen Ereignis. Adrian Eröd gibt den Ottokar im schwarzen Militärmantel mit aristokratischer Noblesse und Arroganz, seine Unterordnung unter den Willen des Eremiten ist blasiert gespielt. Albert Dohmen als Kuno und Sebastian Wartig als Kilian runden das großartige Sängerensemble ab.

Die Stimme des Samiel dröhnt in der Wolfsschlucht snobistisch überheblich, ja, fast gelangweilt aus dem Lautsprecher, wie bei einer Ansage an einem Bahnsteig, weniger Furcht einflößend, aber mit abwechslungsreichen Echo-Varianten nach jeder gegossenen Freikugel. Der Sächsische Staatsopernchor Dresden ist mit viel Spielwitz und Engagement bei der Sache und von Jörn Hinnerk Andresen bestens eingestimmt. Der Jägerchor wird als Feststück für den Fürsten aufgeführt, zu dem Kinder kleine Jagdszenen beisteuern. Ein sehr nachdenklich stimmender, aber zum Regiekonzept stimmiger Einfall, denn es wird die nächste Generation an Jägerburschen herangezogen, und die Geschichte ist noch nicht auserzählt.

Wieder einmal herausragend an diesem Abend die Sächsische Staatskapelle Dresden unter Ihrem GMD Christian Thielemann. Schon die ersten Töne der Ouvertüre, langgezogen und düster, lassen das Unheil ahnen, das da kommen wird. Die Leitmotive, soweit man sie so bezeichnen darf, werden dominant herausgearbeitet, und das Tempo erscheint langsam, dafür intensiv und atemraubend. Thielemann wühlt in den dunklen Tiefen der Partitur und betont das Dämonische in der Musik. Dabei ist sein Schlag präzise, sein Dirigat sängerfreundlich und unprätentiös. Beim bekannten Jägerchor zieht Thielemann das Tempo an, was zu der gar nicht so romantischen Darstellung auf der Bühne bestens passt.

Das Publikum spendet großen Applaus, besonders umjubelt werden Georg Zeppenfeld und Christina Landshamer sowie Christian Thielemann, während das Regieteam doch einige Buhrufe einstecken muss.

Andreas H. Hölscher