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ORFEO ED EURIDICE
(Christoph Willibald Gluck)
Besuch am
3. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)
Christoph Willibald Gluck gilt gemeinhin als Erneuerer der Oper. Mit der 1762 in Wien uraufgeführten Oper Orfeo ed Euridice überwindet er die starren Konventionen der Barock-Oper. Er ist mit dem reformistischen Anspruch, die erstarrten Strukturen der Opéra seria zu überwinden, der Komponist der Stunde.
Seinem Anspruch, sich den kalten Schönheiten der Konventionen zu widersetzen, stehen allerdings die nach wie vor herrschenden höfischen Rituale entgegen. Nach der Wiener Uraufführung wird die Oper kaum noch akzeptiert. Gluck sieht sich ökonomisch gezwungen, zurück zu rudern. Mehrfach mit französischem Kolorit überarbeitet, verliert sie ihre Italianità-Urgestalt.
Thomas Hengelbrock demonstriert mit einer halbszenischen Aufführung der italienischen Originalfassung im Konzerthaus Dortmund eindrucksvoll, welches Juwel in Orfeo ed Euridice steckt. Die Aufführung mit dem Balthasar-Neumann-Orchester und -Chor verströmt einen formidablen Barock-Glanz in sui generis. Wunderbar zu erleben, wie der von Gluck in der Vorrede zu Alceste formulierte Anspruch, die Musik wieder auf ihr wahres Amt zurückzuführen, Form annimmt.
Orchester und Chor harmonieren im scheinbar selbstverständlichsten Einverständnis mit dem Dirigenten. Die vom Orchester begleiteten Rezitative setzen dramatische wie melancholisch poetische Zäsuren. Echo-Wirkungen zwischen Bühnen-Orchester und ausgewählten Instrumentengruppen im Rang verbindet Hengelbrock mit narrativem Gespür.
Einerseits ist da Orpheus‘ Vertrauen auf das Echo seiner Liebe zu der in den Tartarus verbannten Eurydice. Andererseits fordert Hengelbrock den Streichern im zweiten Akt berserkerhafte Tonvolumina ab. Als die Furien sich Orpheus‘ Bitte auf Zutritt in die Unterwelt wütend entgegenstemmen, türmen sich im Orchester Klangkaskaden presto più que prestissimo.
Das Libretto von Ranieri de’ Calzabigi als Azione teatrale per musica übersetzt Hengelbrock – halbszenisch bezeichnet – in ein minimalistisches Klang-Großformat. Den Eurydike-Orpheus-Mythos, erzählt und gestaltet aus der Orfeo-Perspektive, unterstreicht er mit Adornos euphorischer Arabeske, alle Oper sei Orpheus.
Foto © Bjørn Woll
Hengelbrock dirigiert das Balthasar-Neumann-Orchester nicht nur elegant durch Glucks Reform-Partitur. Er führt es vielmehr mit dialogischer Sorgfalt zu einem traumhaften Klangzauber. Für Glucks Idee von einer neuen Oper, eine Unmittelbarkeit von Text und Musik durch Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit zu erreichen, findet er eine authentische Präsenz. Er setzt noble Generalpausen, beschwört mimisch Pianissimo oder Fortissimo, als verleihe er den Tönen Flügel. Seine Glaubwürdigkeit überträgt sich vom Orchester bis zu den Solisten.
Hengelbrocks ausgerollten Klangteppich nutzen die Solisten zu einem kreativen Miteinander. Mit Jakub Józef Orliński als Orfeo ist ein jugendlich frischer, dunkel gefärbter Countertenor mit einer exzellenten Tonfärbung zu erleben. Keine Mezzosopran-Anschmiegung, sondern das Auffinden einer eigengeprägten, flexibel differenzierenden Klangfarbe. Sowohl verschmerzt und verzagt, als auch hoffend und zweifelnd, die Wechselbäder der Gefühle und Emotionen leuchtet Orliński glanzvoll aus.
Orfeo ahnt dunkel, dass er die ihm auferlegte Bedingung, Euridice beim Hinausführen aus der Unterwelt ans Licht nicht anzusehen, nicht wird erfüllen können. Wenn er verzweifelt fragt: Cosa ha detto? Cosa ho sentito? Mit Che farò senza Euridice streichelt Orliński die lauschende Seele der Konzertbesucher.
Regula Mühlemanns Sopran moduliert die Gefühlswelten einer an der wirklichen Unmittelbarkeit von Orfeos Bravourtat scheiternden Euridice mit authentischem Charisma. In makellosen Höhen und dramatischen Mittellagen verrennt sie sich im teuflischen Seh-Verbot. Orfeo kapituliert. Von leidenschaftlicher Liebe überwältigt, kann er nicht widerstehen. Als er sich ihr zuwendet, stirbt sie. Guai a me! Dove ho sbagliato? Er hat die von den Göttern auferlegte Probe nicht bestanden.
Elena Galitskaya zeichnet mit klangschönem, ausdrucksstarkem Sopran Amor sowohl als Chancen- wie auch als Schicksals-Götterbote. Unprätentiös, gleichwohl unüberhörbar charakterisiert sie Amor als Mythos des Trotzdem. Orfeos unbedingtem Willen gewähren die Götter allerdings hier gnadenvoll eine Ausnahme. Der Chor setzt den finalen Höhepunkt: Cupido trionfa e tutto il mondo serve il regno della bellezza.
„Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten, darf das unendliche Lob ahnend erstatten“, heißt es in Die Sonette an Orpheus von Rainer Maria Rilke. Die Besucher im Konzerthaus Dortmund machen sich mit dem Hochgefühl einer Ahnung von der Magie dieser Leier auf den Heimweg.
Peter E. Rytz