O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Zu perfekt für diese Welt

NOVA – IMPERFECTING PERFECTION
(Franz Danksagmüller)

Besuch am
20. Juni 2019
(Uraufführung)

 

Evangelischer Kirchentag, Orchesterzentrum NRW, Dortmund

Auf einer Studiobühne wird diese „Kammeroper im virtuellen Raum für Sopran, Bratsche, Tenor (virtuell), Bariton (virtuell) und Live-Elektronik“ kaum funktionieren. Vom Evangelischen Kirchentag, der derzeit in Dortmund stattfindet, hat Franz Danksagmüller einen Kompositionsauftrag erhalten. Dementsprechend findet die Uraufführung von Nova – Imperfecting Perfection im Orchesterzentrum NRW in Dortmund statt. Das Orchesterzentrum, nur wenige Meter vom Konzerthaus Dortmund entfernt, ist eine „gemeinsame Einrichtung der vier staatlichen Musikhochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen – Detmold, Düsseldorf, Essen und Köln – und europaweit die erste hochschulübergreifende Ausbildungsstätte für künftige Orchestermusiker“. Sie verfügt über einen ordentlich ausgestatteten Konzertsaal mit einer ausreichend großen Bühne. Perfekt für eine Oper, die richtig große Projektionsflächen und viel Spielraum für eine Sängerin und ihr Spielzeug braucht, um sich einem brandaktuellen Thema zu widmen.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Während nämlich Forscher und Entwickler der Gegenwart noch darüber nachdenken, was Künstliche Intelligenz eigentlich ist und können soll, ist Komponist Danksagmüller schon einen Schritt weitergegangen. Wenn Künstliche Intelligenz und menschliche Gesellschaft zusammenwachsen, zu einem System verschmelzen, ist der Kollaps vorprogrammiert. Individualität, Diversität, Kreativität und viele Dinge mehr, die unser Leben ausmachen, finden dann nicht mehr statt. Stillstand droht, und Stillstand bedeutet Untergang. Weil aber das System intelligent ist, nimmt es diese Perfektion nicht in Kauf, sondern will sie mit einem Wesen unterlaufen, damit sich das System weiterentwickeln kann. Der Android Nova wird trainiert, sich zu individualisieren und ein eigenständiges Leben zu entwickeln. Das muss trotz Liebesgeschichte und Entdeckung der Liebe zur Musik schiefgehen, weil fehlende Perfektion impliziert, dass das System nicht akzeptiert wird. Und weil das System immer stärker ist als der einzelne, scheitert der Android und beendet sein Leben. Es ist allerdings Nova Nr. 354 – und Nova Nr. 355 ist schon in Sicht. Eine Geschichte, die zwischen Poe, Kafka, Star Wars und Orwell oszilliert. Mit den richtigen Freunden könnte man darüber am philosophischen Stammtisch viele Flaschen Wein öffnen und käme vermutlich dem Sonnenaufgang ziemlich nah. Mit dem richtigen Team an seiner Seite kann ein Musiker wie Danksagmüller daraus ein Musiktheater entwickeln, das nicht nur das Zeug zur Oper des Jahres hat, sondern vor allem beweist, dass Neue Musik kein Schreckgespenst, sondern Notwendigkeit ist. Genau das ist gerade in Dortmund geschehen.

Anna Herbst als Nova Nr. 354 – Foto © O-Ton

Kay Link hat die Aufgabe übernommen, das Libretto in Bühnenform zu gießen. Gesa Gröning zeichnet für die Ausstattung verantwortlich. In der Bühnenmitte sind einige weiße Kartons aufgebaut, die in der Folge nicht nur verschiedene Funktionen bekommen, sondern auch für ständige Veränderung sorgen. Der Hintergrund der Bühne wird fast vollständig von drei Leinwänden eingenommen. Links davon nimmt hinter ein paar Scheinwerfern der Bratschist Platz. Auf der rechten Seite ist der Arbeitsplatz von Virgil Widrich, der für das virtuelle Bühnenbild und die Videos zuständig ist, und von Franz Danksagmüller, der die musikalische Leitung innehat und die Live-Elektronik übernimmt. Oleg Prodeus kümmert sich um die Projektionen und das Licht. Wie sich schnell herausstellt, hat hier ein kongeniales Team zusammengefunden, das Video nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als zentralen Bestandteil der Handlung begreift. Und damit bekommen die bewegten Bilder das emotionale Gewicht, das ihnen zusteht.

Olof von Gagern an der Viola – Foto © O-Ton

Im Mittelpunkt des Geschehens steht Anna Herbst, Sopranistin und ausgewiesene Spezialistin für Neue und Alte Musik. Auf der Konzertbühne hat sie sich einen exzellenten Ruf erarbeitet, auch auf der Opernbühne ist sie zu Hause, aber der heutige Abend stellt doch noch mal eine besondere Herausforderung dar. Ihr Anspielpartner ist ein Avatar, den sie erst kurz vor der Uraufführung kennengelernt hat. Ansonsten ist sie damit beschäftigt, die weißen Kartons zu bewegen, die einerseits für bestimmte Themen stehen, andererseits in ihren wechselnden Konstellationen Bestandteil eines Netzwerks sind, das sich schließlich gar im Video fortsetzt. Als glatzköpfiger Android tritt die Sängerin an, deren Erkennungsmerkmal ansonsten das knielange, blonde Haar ist, wird vom System individualisiert, indem sie über ihr silberfarbenes Kostüm einen wirklich einfallslosen, weißen Zweiteiler zu streifen und eine Perücke überzustülpen hat. Allein die Vorstellung dieses Doppelkostüms lässt bei 23 Grad Außentemperatur und Scheinwerferlicht einige Besucher ins Schwitzen geraten. Es ist nicht die einzige Bürde, die die Sängerin zu meistern hat. Zwar hat der Komponist ihr die Stimme der Nova auf den Leib geschrieben – und das hört man auch – allerdings nimmt er die Stimme elektronisch ab und kombiniert sie mit seiner Musik zu einer perfekten Mischung. Was eigentlich nach Erleichterung klingt, funktioniert tatsächlich nur, wenn die Stimme auf die Note genau sitzt, weil es selbst in einer Nachbearbeitung, die es hier nicht gibt, unecht klänge. Herbst ist an diesem Abend auf dem Punkt. Besser kann es nicht laufen. Damit passt sie sich auch den Stimmlagen des Tenors Valdemar Villadsen, der virtuell als Seth auftritt, und den Stimmen von <wholeness> und des Versuchsleiters, die der Bariton Gerard Quinn interpretiert, an.

Auch die Bratsche, die Olof von Gagern mit besonderem Schwierigkeitsgrad gelungen beherrscht, weil er völlig alleingelassen wird, wird elektronisch abgenommen. Danksagmüller mischt alles in Echtzeit mit einer Exaktheit ab, die nicht nur beeindruckt, sondern die einfach virtuos ist. Dabei hält er die musikalische Spannung über eineinhalb Stunden ohne Schwierigkeiten aufrecht. Nur als Besucher mag man sich wundern, dass die Zeit schon um ist.

Dass der Evangelische Kirchentag als Veranstalter hier in Sachen Marketing und Öffentlichkeitsarbeit komplett versagt hat, ändert nichts an der Tatsache, dass die wenigen Besucher absolut begeistert sind. Diese Oper ist nicht nur repertoirefähig, sondern weist in eine Zukunft, die Besucher anlockt, anstatt sie zu vergraulen.

Michael S. Zerban