O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Alpha und Omega

ORIGINS
(Diverse Komponisten)

Besuch am
8. Januar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Münsterchor Neuss, Basilika Kloster Knechtsteden, Dormagen

Manchmal möchte man am liebsten aber auch die Flinte ins Korn schmeißen. In den letzten beiden Jahren haben viele Konzertveranstalter ein Höchstmaß an Frustrationstoleranz entwickeln müssen. Denn egal, wie professionell der Veranstalter ist – ein Konzert ist immer mit großem Organisationsaufwand verbunden. Und der war oft genug vergeblich, wenn in letzter Sekunde wieder alles abgesagt werden musste. Einer der Unermüdlichen ist Joachim Neugart, Kantor und damit Organist und Chorleiter am Quirinusmünster in Neuss. Immer wieder nimmt er Anlauf und will so auch das neue Jahr starten. Zudem hat er sich etwas Besonderes einfallen lassen, um dem vierten Teil des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach, der Kantate Fallt mit Danken, fallt mit Loben, die er mit dem Münsterchor und dem Barockensemble Sonare, beide am Quirinusmünster beheimatet, aufführen will, eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu verleihen. Der Musiker lädt das Vokalensemble Sjaella aus Leipzig ein, anschließend sein neues Programm zu präsentieren. Die Idee zieht, die Nachfrage zum Konzert, das in der Basilika des Klosters Knechtsteden in Dormagen stattfinden soll, ist riesig.

Als die Basilika gefühlt bis auf den letzten erlaubten Platz besetzt ist, hat Corona erneut kräftig zugeschlagen. Der Münsterchor darf gemäß irgendeiner Verordnung nicht auftreten und, was die Besucher zusammenzucken lässt, Neugart ist positiv getestet und kann die musikalische Leitung des Abends nicht übernehmen. Das kann doch alles nicht wahr sein, mag Neugart gedacht haben. Alles steht, und binnen Sekunden bricht das Kartenhaus wieder ein. Nein, da muss es eine andere Lösung geben. Das Konzert wird stattfinden!

Franziska Eberhardt – Foto © O-Ton

Von vornherein stand fest, dass zwei Damen des Vokalensembles die Solistenrollen in der Kantate übernehmen. Und nach etlichen Telefonaten stand ebenfalls fest, dass die Besucher der Basilika in den Genuss einer ganz besonderen Lösung kommen sollen. Die Solisten erklären sich bereit, auch ohne die Unterstützung des Chors aufzutreten. Um alle Stimmfächer abzudecken, kann die Altistin Angela Froemer gewonnen werden. Und für die musikalische Leitung wird eine geradezu luxuriöse Vertretung gefunden. Stefan Palm ist heute Professor für Orgel und Rektor der Hochschule für Kirchenmusik der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Als bislang einziger Student hatte er einst an der Kölner Musikhochschule neben dem Kirchenmusikexamen die Konzertexamen in Orgel, Cembalo und Klavier abgelegt. So dürfen die Besucher eine ganz wunderbare „kammermusikalische“ Fassung erleben, gleich einer Perle, die man auch nicht jeden Tag findet.

Tenor Leonhard Reso und Bass Sebastian Klein glänzen hier ebenso wie die Damen. Neben Froemer verzücken die Sopranistinnen Franziska Eberhardt und Viola Blache das Publikum. Hier deutet sich schon an, was das Publikum später noch explizit erleben wird. Sjaella hat ein besonderes Faible für akustische Räume. In der ersten Arie stellt sich Eberhardt in den Hintergrund, um dem berühmten Ja- und Nein-Echo eine tiefere Räumlichkeit zu verleihen. Eine einfache Idee mit großer Wirkung. Palm indes sieht die Orchesterarbeit eher als Unterstützung der Sänger, und so entsteht dank der unaufgeregten, aber hochprofessionellen Mitarbeit des Ensembles Sonare ein flügelleichter Gleichklang, der das Publikum förmlich beseelt. Und wenn es tatsächlich der ständigen Lobpreisung Jesu bedarf, so ist sie hier in Formvollendung gelungen.

Man muss nicht gläubig sein, um sich an diesem Abend musikalisch begeistern zu lassen. Und man muss auch nicht daran glauben, dass Jesus „das Alpha und das Omega“ ist, also der Anfang und das Ende des Lebens, wie er von sich selbst in der Offenbarung des Johannes behauptet, aber immerhin ist so eine glaubhafte Verbindung zum zweiten Teil des Abends geschaffen. Mit wenigen Handgriffen ist der Orchesterplatz geräumt, und es entsteht eine großzügige Fläche für das Vokalensemble Sjaella, das sechs Sängerinnen aus Leipzig bilden. Sjaella heißt im Deutschen Seele. Auch ohne große Erklärung wird dem Publikum bei der Vorstellung des neuen Programms schnell klar, woher der Name stammt. Origins – also Ursprünge – ist der Titel. Die Sängerinnen wollen hier einen Blick auf natürliche Kreisläufe wie die Jahreszeiten, die Kraft der Elemente oder den Rhythmus von Tag und Nacht werfen. Dazu haben sie englischsprachige Werke zusammengestellt. Darum kümmert sich das vorbildliche Programmheft nicht, sondern liefert stattdessen die deutschen Übersetzungen. Hier wird keiner zurückgelassen. Um dem Abend die nötige Spannkraft zu liefern, haben die Sängerinnen neu arrangierte Lieder des 16. und 17. Jahrhunderts zeitgenössischen Kompositionen gegenübergestellt, die teilweise der Minimal Music zuzurechnen sind.

Stefan Palm – Foto © O-Ton

Eberhardt und Blache stellen sich gemeinsam mit der Sopranistin Marie Fenske, der Mezzosopranistin Marie Charlotte Seidel sowie den Altistinnen Luisa Klose und Helene Erben im Kreis auf, um mit Evening Morning Day von David Lang zu eröffnen, der 1957 geboren ist. Ein herber Gegensatz zum eben Gehörten und gerade deshalb gut geeignet, auf die neue Stimmlage einzuschwören. Aus dem 17. Jahrhundert stammt Have you e’er seen the morning sun?. Blache erläutert das eben Gehörte, ehe sie auf den Liederzyklus aus The Fairy Queen von Henry Purcell überleitet.

Man muss sich das bitte mal bildlich vorstellen. Da kommen ein paar hochmotivierte Mädel aus Leipzig in die Basilika, rennen dort herum und untersuchen die Klangwirkungen der einzelnen Räume. Du, hier klingt es besonders hallig – hier stellen wir uns mal mit dem Rücken zum Publikum – wollen wir nicht noch ein bisschen Wasserglasmusik unterbringen? Da bleibt ja keine Zeit, das muss alles blitzschnell gehen. Inzwischen tragen die Damen das Triptychon für unsere Zeit vor, das aus den Teilen Apocalypse, Dead Soul und Ascending Stairways besteht und von Paola Prestini komponiert wurde, die 1975 geboren wurde und auf Texte aus dem 20. Jahrhundert zurückgriff. Weil es nicht immer was zu singen gibt, greifen die Sängerinnen auf hochmodulierte Klangbildung zurück. Und beschließen den Abend mit Vacuum, einem eigenen Arrangement, das auf einer Tonskala von Maria Jones basiert. Zeitgenössische Musik, die die Menschen begeistert, so dass sie später Schlange an dem Stand stehen, wo das Album verkauft wird, das im Oktober vergangenen Jahres erschienen ist. An diesem Abend gab es eine Menge Impulse der Hoffnung, genau das Richtige, um in das neue Jahr zu starten. Und da kann einen auch der Dauerregen auf der Rückfahrt nicht mehr schrecken.

Michael S. Zerban