Kulturmagazin mit Charakter
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EIN DEUTSCHES REQUIEM
(Johannes Brahms)
Besuch am
31. Oktober 2021
(Einmalige Aufführung)
Sonntagabend kurz vor sieben. Der Himmel über der ländlichen Gegend ist tiefschwarz. Nieselregen fällt warm auf ihn herab. Unter seinen Schritten knirscht der Weg. Links, das weiß er, liegt der Friedhof des Klosters, an dem er jetzt vorüberschreitet. Rechterhand ragt die Basilika düster vor ihm auf. Allein aus den Kirchenfenstern fällt ein wenig warmes Licht, das nicht reicht, um ihm den Weg zu weisen. Der Haupteingang ist verschlossen. Endlich erreicht er einen Seiteneingang, aus dem Licht und Orgelklang strömt. Ein paar Menschen, nur als Scherenschnitte erkennbar, haben sich davor versammelt. Er hat ein ungutes Gefühl, als er sich an die kalte Außenwand der Kirche drückt und eine Zigarette anzündet.
Was klingt wie der Beginn eines Gruselkrimis, spielt sich an einem Konzertabend vor der Basilika des Klosters Knechtsteden ab, in der gerade noch der Gottesdienst zu Ende geht. Später wird unser Protagonist sich in die lange Reihe der Wartenden vor dem Seiteneingang einordnen, der Registrierung unterziehen und schließlich in einer der Kirchenbänke verschwinden, um der Musik zu lauschen, anstatt den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Das braucht er auch nicht, denn an diesem Abend gibt es das Böse nicht. Zumindest nicht sichtbar im Kirchenraum. Stattdessen hat das Ensemble Les Lumières eingeladen, an der Aufführung von Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms teilzunehmen. Chöre haben es in dieser Zeit vergleichsweise gut. Wenn sie zur Aufführung rufen, kommen Kirchgänger, Bekannte und Familienangehörige und bilden schon mal eine Basis, die die Kirche quasi von selbst füllt. So auch an diesem Abend, und das ist wichtig. Denn erst in einer gut besuchten Kirche kann sich die richtige Akustik entfalten. Und darum brauchen sich die Musiker nun keine Gedanken mehr zu machen.
Inger Torill Narvesen – Foto © O-Ton
Da kann man die Freude gut verstehen, die in den Grußworten des Musikalischen Leiters von Les Lumières, Michel Rychlinski, mitschwingt. Denn er hat ein schönes Programm vorbereitet und ist zu diesem Zeitpunkt fest davon überzeugt, dass es auch gelingen wird. Ehe das Deutsche Requiem beginnt, lädt Rychlinski zu einer Reise nach Armenien ein. Der 27-köpfige Kammerchor von Les Lumières hat tatsächlich zwei Lieder von Komitas einstudiert. Komitas Vardapet war ein armenischer Priester und musikalischer Generalist, der heute als Begründer der modernen klassischen Musik Armeniens gilt. Möglich war die Einstudierung, weil an der Aufführung die gebürtige Armenierin Naré Karoyan beteiligt ist und den Chor zuvor mit einer „Lautschrift“ versorgt hat. Eisern schweigt sie zur sprachlichen Qualität des Vortrags, und es darf bezweifelt werden, ob irgendein Armenier versteht, was da gesungen wird, aber nach dem Konzert erzählt sie, dass sie von der Leistung des Chors stark gerührt war.
Puchur Aghjik Sevavor heißt auf Deutsch Kleines düsteres Mädchen und erzählt von einem kleinen Mädchen, dass nicht mit seinem Liebsten zusammen sein kann, weil es jemand anderen heiraten muss. Speziell daran ist, dass die Melodie des Liedes diese Geschichte eigentlich nicht wiedergibt. Daran schließt sich das erste Klavierstück Marali an. Ein Tanz aus der Stadt Shushi, die voriges Jahr in aserbaidschanische Hände fiel und die Armenier damit in die Flucht trieb. Das zweite Chorlied ist Hov areq, sarer jan, zu Deutsch Gebt Kühle, liebe Berge. Es handelt von einem leidenden Menschen, der die Natur um Trost bittet, ohne dass seine Bitte erfüllt würde. Die Melancholie setzt sich fort, wenn Karoyan noch ein Volkslied anschließt, das den Titel Yes saren kugayi, also Ich kam aus den Bergen, trägt. Das handelt von einem Menschen, der von den Bergen herunterkommt und beim Hauseingang seine Liebste sieht, der er eigentlich mit Härte begegnen will. Aber ihre Tränen, erzählt Karoyan, hat sein Herz wie ein Pfeil getroffen. Die über allem liegende Melancholie, die weit weg von der tiefen Trauer der russischen Seele ist, aber auch mit rheinischem Frohmut nicht das Geringste zu tun hat. Es ist ein gelungener Ausflug in eine andere Welt, an die sich das Deutsche Requiem nahtlos anschließt.
Michel Rychlinski – Foto © O-Ton
Über zehn Jahre brauchte Johannes Brahms, um ein Werk zu erschaffen, das eigentlich kein Requiem, also nicht die Liturgie der Totenmesse der katholischen Kirche ist, sondern eher ein Oratorium des Trostes. Konzipiert ist es für Sopran- und Bariton-Solo, Chor, Orgel und Orchester. Ein bombastisches Werk, das die Möglichkeiten von Les Lumières bei Weitem übersteigt. Eine Idee ist gefragt. Und Rychlinski lässt sich etwas einfallen. In einer Zeit, in der noch große Kompositionen an fürstliche Höfe verkauft werden mussten, anstatt wie heute eine dreizehnminütige Musik für zwei Sänger und drei Instrumente anzubieten, war es üblich, Klavierauszüge – so genannte Salonfassungen – anzufertigen. Brahms fertigte zu diesem Zweck eine vierhändige Klavierfassung seines Requiems in London an. Wenn er ein guter Komponist ist, so mag Rychlinski gedacht haben, sind Chorfassung und Klavierauszug identisch – und damit kombinierbar. Und so gibt es in Knechtsteden eine hochinteressante Aufführung. Der Chor tritt auf. Naré Karoyan und Florian Noack kommen hinzu, zwei hochtalentierte Pianisten, die an einem Flügel Platz nehmen. Sie lassen die Musik anfluten, die der Chor zum Troste des Menschen aussingt. Karoyan nimmt sich der Bassläufe mit Anmut an, Noack ergänzt in den Höhen mit fast zartem Anschlag. Die Füße bleiben von den Pedalen weit entfernt. In Kombination mit dem Gesang des Chors, der von Rychlinski engagiert geleitet wird, entsteht ein wunderbarer Klang, der den Kirchenraum warm erfüllt. Als Solisten leisten Bariton Christophe Gautier und Sopranistin Inger Torill Narvesen ihren Beitrag.
Der Trost des Werkes muss über den Klang erfolgen, denn den Text können die Besucher mangels fehlender Abendzettel oder gar Programmhefte nur marginal verstehen. Aber was bedeutet das schon, wenn Rychlinski den Abend zu einem Gesamtkunstwerk zu gestalten versteht? Gar nichts. Das Publikum ist begeistert, bedankt sich energisch und der eine oder andere scheint gar enttäuscht, dass der Applaus schon nach vielen Minuten endet. Der Chor, der nach fast zwei Jahren, in denen er zum Schweigen verurteilt war, mit Glanz und Gloria zurückgekehrt. Und die Pianisten haben sich selbst übertroffen. Mehr kann man von einem Abend nicht erwarten.
Michael S. Zerban