O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Reiner Pfisterer

Aktuelle Aufführungen

Klangwände und akustische Müllberge

RECYCLING CONCERTO
(Gregor A. Mayrhofer)

Besuch am
9. Februar 2022
(Einmaliges Gastspiel)

 

Konzert-Theater Coesfeld

Besucher, die sich abends auf den Weg nach Coesfeld zu einer Veranstaltung ins Konzert-Theater machen, haben keine Mühe, diesen Ort auch im Dunkeln zu finden. Schon von Weitem leuchtet der gläserne Komplex mit seinen Glasfronten als leuchtender Kubus ins Dunkle.  Je mehr man sich dem gläsernen Kubus nähert, umso einladender wirkt er. Die meist festlich gekleideten Besucher werfen bewegte Schatten und Bilder auf die Fassade. Das hell erleuchtete Foyer mit warmen Holztönen bietet viel Platz.  Auch der Zuschauerraum   mit knapp 1.000 Plätzen lädt zu einem vergnüglichen Abend ein. Ob Konzert oder Schauspiel, ob Solovorstellung oder ein Symphoniekonzert mit Platzbedarf für ein ganzes Orchester, das Theater bietet Platz für künstlerische Darbietungen aller Art. Selbst in Coronazeiten ist reichlich Platz für die Besucher, die von allen Plätzen dem Bühnengeschehen bei guter Akustik leicht folgen können. Kein Wunder, dass es dem Veranstalter nicht schwer fällt, prominente Gäste aus dem In- und Ausland für Gastspiele zu gewinnen.

Hierzu gehören auch die Solokünstlerin Vivi Vassileva, Percussion, und Alexander Liebreich, künstlerischer Leiter, mit seiner Württembergischen Philharmonie aus Reutlingen, die in diesem einladenden Ambiente ausgerechnet ein Recycling Concerto präsentieren.

Foto © Reiner Pfisterer

Das Corona-Virus schafft es bis in die Partituren und Konzertsäle. Das 2021 von Mayrhofer für Vassileva geschriebene Werk Recycling Concerto kommt erst jetzt zur Uraufführung. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der Politik und Wissenschaft sich intensiv darum bemühen, die Umweltverschmutzung in den Griff zu bekommen, greift Mayrhofer zum Müll. Provokant fragt er: „Kann Müll überhaupt klingen?“ Gregor A. Mayrhofer wächst in München in einer Musikerfamilie auf und erhält früh Instrumentalunterricht, zunächst in München, dann in Paris und New York. Nach seiner Ausbildung praktiziert er schon früh bei namhaften Orchestern wie den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle, der Berliner Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper, der Slovenian Philharmonic, um nur einige zu nennen.

Ob die Zuhörer die Breite und Vielfalt der Geräuschkulisse als „Klang“ empfinden, sei dahingestellt. „Aus alten Plastikbehältern und Kisten werden Trommeln, aus weggeworfenen Marmeladengläsern und Kronkorken werden Shaker, aus benutzten Kaffeekapseln raschelnde Chimes …“ Alu- und Plastikfolien „erklingen“ neben alten Lampenschirmen, Glocken und Klangstäben, lediglich ein Marimbafon und zwei Glockenspiele erinnern entfernt an konventionelle Musikinstrumente. Eine „Flaschen-Marimba“ erzeugt kontrollierte Klänge und macht den Begriff einer „Konsum-Musik“ verständlich. Vor einer riesigen „Klangwand“ entsteht ein „akustischer Müllberg“, dem Vassileva merkwürdige, ungewohnte Töne entlockt. Geboren in einer bulgarischen Musikerfamilie, hat sie nach ihrem Studium den Titel „Rising star am Percussion-Himmel“ erworben und macht diesem Titel alle Ehre, wie mehrere Preise belegen. Das Konzerthaus Dortmund hat sie als Nachwuchstalent zu den „jungen Wilden“ nach Dortmund eingeladen, und das Konzerthaus Wien präsentiert sie als „Great Talent“. Vassilevas „Instrumente“ nehmen einen großen Teil der Bühne in Anspruch. Für den Zuschauer ist es oft schwierig, all die Instrumente wahrzunehmen und zu unterscheiden, die Vassileva auf die Bühne stellt. Neben einigen konventionellen Instrumenten wie diversen Trommeln, Glockenspielen, Rauschstäben, einem riesigen Gong, einer Snare-Trommel und Glocken bedient sich die Musikerin aller möglichen Flaschenverschlüsse, Gläser, zig Sticks und Schlegel, die Donnerbleche dürfen nicht fehlen. Zwischen dieser Batterie von Geräuschquellen – man kann sie kaum Instrumente nennen – agiert die junge, zarte Solistin souverän mit sichtbarer Freude und zaubert Geräuschteppiche, ungewohnte Klänge und Rhythmuskaskaden, scharfe „Shots“, sanfte Marimba-Töne und rasend schnelle Trommelschläge, denen man kaum folgen kann.  Auch wenn die Zuhörer nur selten durchlaufende Rhythmen zu hören bekommen, verfolgen sie begeistert Vassilevas Klangwand. Die Württembergische Philharmonie gibt ihr den passenden Rahmen. Neben der üblichen Besetzung mit Streichern und einer mächtigen Bläsergruppe setzt Mayrhofer gleich vier große Kesselpauken ein, die das wirbelnde Percussionspiel der Vassileva effektvoll unterstützen.

Foto © Reiner Pfisterer

Im weiteren Teil des Abends präsentiert Alexander Liebreich mit vollem Orchester Bruckners Sinfonie Nr. 4, Es-Dur, der dieser den Zusatz die „Romantische“ gab. Die Komposition liegt in zwei Fassungen vor. Mit ihr wechselt in schönem Kontrast zu Mayrhofers ungewohnten „Recycling“-Klängen die Stimmung, die Grundstimmung wird gelöst und positiv. Bruckner sieht im ersten Satz das „romantische Bild einer mittelalterlichen Stadt“, Hörner intonieren das Hauptthema, der großen Streichergruppe gelingt eine romantische Stimmung, schließlich setzen Trompeten und Posaunen neue Akzente und schaffen ein ungewohntes Klangvolumen. Während die Streicher immer wieder sanfte, romantische Passagen bringen, treten die Bläser mit voller Kraft auf, darüber schwebt mit klarer Stimme ein  Klarinettenthema. Mit vollem Klang des gesamten Orchesters geht der Schlusssatz ins Finale über.

Mit dem Recycling Concerto und – im Gegensatz dazu – der Romantischen erleben die Zuhörer zwei Werke der jüngeren Musikgeschichte, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Bruckners Romantische den Hörgewohnheiten der Zuhörer entgegen kommt, fordert Mayrhofer die Bereitschaft zu „neuem“ Hören. Nur in dieser Spannbreite erfahren sie, was Franz Liszt von Konzertbesuchern verlangt, wenn er von „Zukunftsmusik“ spricht. Ob die Zuhörer schon bereit sind, im Recycling Concert eine symphonische Dichtung zu erkennen,  muss offen bleiben.

Alexander Liebreich und die überragende Vivi Vassileva haben den Zuhörern einen Konzertabend präsentiert, der an Vielfalt, Virtuosität und Modernität kaum Wünsche offen lässt. Die Zuhörer sind begeistert und bedanken sich mit langanhaltendem Beifall.

Horst Dichanz