O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nasser Hashemi

Aktuelle Aufführungen

Die letzte Eiszeit

GÖTTERDÄMMERUNG
(Richard Wagner)

Besuch am
1. Dezember 2018
(Premiere)

 

Oper Chemnitz

Es ist ein ambitioniertes Projekt, dass das Theater Chemnitz in diesem Jahr anlässlich des 875-jährigen Stadtjubiläums auf die Bühne bringt. Richard Wagners Ring-Tetralogie in einem Jahr neu zu inszenieren, von vier verschiedenen Regisseurinnen. Nach dem drastischen Rheingold von Verena Stoiber Anfang Februar, einer etwas biederen Walküre von Monique Wagemakers Ende März und der Märchenerzählung Siegfried von Sabine Hartmannshenn Ende September ist es nun an Elisabeth Stöppler und ihrem Team, mit der Götterdämmerung das Finale der Tetralogie zu bestreiten. Und passend zum meteorologischen Winteranfang wird es auch kalt auf der Bühne. Das Nornen-Vorspiel spielt in einer unwirklichen Welt, es ist arktisch kalt und neblig, die Nornen sind in dickes Fell gehüllt und frieren trotzdem. Sie berichten vom Untergang der Natur, von der gefällten Weltesche und dem Versiegen des heiligen Quells. Es herrscht also nicht nur Eiszeit, es ist auch eine apokalyptische Weltuntergangsstimmung, eine Dystopie allerorten. Elisabeth Stöppler hat sich da so ihre Gedanken gemacht und verortet diese Götterdämmerung szenisch in die Jetztzeit mit den beherrschenden Weltthemen wie Klimawandel und Globalisierung. Der Untergang der Götter, der Weltenbrand Walhalls, für Elisabeth Stöppler ist das fürwahr „eine furiose apokalyptische Metapher. Der Kollaps der Natur, aber auch der Untergang einer Familiendynastie und eines herrschenden Gesellschaftssystems stehen also von Beginn an unmittelbar bevor.“ Walkürenfelsen und Gibichungenhalle sind für Stöppler die zentralen Gegen-Pole dieses Werkes, nicht nur geografisch betrachtet, sondern auch im metaphysischen Sinne.

In der Götterdämmerung spitzt sich zu, was dem Ring, dem Machtsymbol schlechthin, seit Alberichs Fluch im Rheingold anhaftet: Er bringt allen, die ihn besitzen, den Tod und führt schließlich zum Untergang eines ganzen Imperiums. Siegfried, der furchtlose Held, anders als sein Vater Siegmund nun frei von Wotans Wille, ist sich der Verantwortung für dieses Liebespfand Brünnhildes jedoch nicht bewusst. Von Alberichs Sohn Hagen manipuliert, verspielt Siegfried leichtfertig den Ring, seine große Liebe und jede Chance auf Wiedergutmachung und Rettung der aus den Fugen geratenen Welt. Einzig Brünnhilde, durch Liebe und schmerzvolle Erfahrung gereift, überdauert den Untergang des machtzerfressenen, elitär-dekadenten und brutalen Gesellschaftssystems. Durch sie besteht die Möglichkeit der Hoffnung auf eine Zukunft. Und hier stellt Regisseurin Elisabeth Stöppler mehr als ihre Kolleginnen in den drei Inszenierungen zuvor das Weibliche, das Mütterliche ins Zentrum ihrer Gedanken. Brünnhilde ist durchdrungen von der „Hitze der Liebe, die selbst polarer Kälte trotzt“, während Siegfried rastlos wie ein Kleinkind und wie in einem Fieberrausch alles zerstört.

Das ist kein hehres Paar, denn Siegfried kann Brünnhildes Dimension nicht erfassen. Und so will er nach einer Liebesnacht auf dem Felsen weg zu neuen Taten. Dass Brünnhildes Pferd Grane hier als Kinderschlitten dargestellt wird, symbolisiert das kindliche Naturell des Jungen, der seine Mutter nie kennenlernen konnte und der in Brünnhilde auch eher eine mütterliche Projektion sieht, so wie es Parsifal bei Kundry empfindet. Stöppler scheint sich sehr mit Wagners Autobiografie beschäftigt zu haben, denn die fehlende Mutterliebe hat Richard Wagner sehr geprägt und sein besonderes Frauenbild geschaffen, das am Ende nur der Erlösung dient.  Auch Brünnhilde wird am Schluss Siegfried erlösen und der Welt die Hoffnung auf eine neue Zukunft geben. Doch bis dahin ist es noch ein langer und schmerzlicher Weg, den Stöppler aufzeigt.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Die Gibichungen sind die typischen Repräsentanten einer dekadenten, neureichen und oberflächlichen Gesellschaft, die keine Werte kennt. Gunter ist ein Schwächling, der nur durch Äußerlichkeiten zu glänzen weiß. Gutrune erscheint Anfangs als naives Dummchen, entwickelt sich aber zum Schluss zu einer liebenden und dann rachevoll hassenden Frau, die die Apokalypse überlebt und sich vom Joch der Gibichungen befreit. Hagen ist die zentrale Schlüsselfigur in dieser Inszenierung. Gefühlskalt, berechnend und manipulierend. Alles hat er minutiös geplant, um den Ring des Nibelungen zu gewinnen, für sich, nicht für Alberich. Doch er hat die Rechnung ohne Brünnhilde gemacht, die durch den Verrat Siegfrieds von der liebenden Frau wieder zur kühl agierenden Walküre wird, der Hagen nicht ebenbürtig sein kann. Der Vergessenheitstrunk, den Siegfried zu sich nimmt, ist eine ekstatische Droge, die ihn sofort abhängig und süchtig macht. Seine vermeintliche Liebe zu Gutrune ist nichts weiter als lüsterne Geilheit. Schnell ist klar, dass das Ende nicht gut ausgehen kann. Und Stöppler forciert diesen Lauf mit zum Teil drastischen Bildern, die sich einprägen, auch wenn sie nicht immer nachvollziehbar und zum Teil am Werk vorbei inszeniert sind.

Da ist zum Beispiel die Szene, wenn Siegfried in der Gestalt Gunters Brünnhilde auf dem Felsen bezwingt. Stöppler lässt beide Protagonisten, in Textmarker-gelber Polarkleidung identisch ausschauend, auf dem Felsen erscheinen, was natürlich widersprüchlich zum Inhalt steht. Oder die Szene Siegfrieds mit den Rheintöchtern im dritten Aufzug, die wie mutierte Waschbären ausschauen, die sich am Hinterhof der Gibichungenhalle mit dem Dreck der Zivilisation begnügen müssen. Doch die größte emotionale Szene ist Siegfrieds Tod und der Trauermarsch. Hagen erschießt Siegfried hinterrücks und während er noch im Todeskampf liegt, ändert sich das Bild, und Brünnhilde, eingerahmt von gefallenen Helden für Walhall, ist wieder die Walküre, die den Tod verkündet. Sie wäscht Siegfried, reinigt ihn vom Schmutz der Gibichungen-Welt, während Siegfried seinen Tod erkennt und wie ein kleines Kind in einen Weinkrampf ausbricht, getröstet von der Mutterfigur Brünnhilde, bis er im Tode zur Ruhe kommt und Brünnhilde den verfluchten Ring an sich nimmt. Und das alles zu den Klängen des Trauermarsches, eine große, alles überragende Szene, die den Antagonismus zwischen Siegfried und Brünnhilde auf eine so noch nie gesehene Weise darstellt. Diese Szene führt zwangsläufig dazu, dass auch der Schluss der Götterdämmerung eine neue Sichtweise erfährt. Hagen erkennt, dass der Ring nicht mehr am Finger des toten Siegfried steckt, und in diesem Moment weiß er, dass alles für ihn verloren ist. Die Pistole, mit der er noch Gunter erschossen hat, wird Brünnhilde der rasenden Gutrune in die Hand drücken, die wiederum eiskalt ihren Halbbruder erschießt. Hagens letzte Worte „Zurück vom Ring“ kommen daher logischerweise aus dem Off, sie spielen für die Fortsetzung der Handlung keine Rolle mehr. Am Schluss, wenn Brünnhilde sich mit Benzin übergossen hat, und ein Schneesturm alles unter sich begräbt, siegt das ewig Weibliche. Es ist Erda, die Ur-Mutter, die ihre Töchter zu sich ruft. Brünnhilde, die Nornen, die Rheintöchter; auch Gutrune darf in diesen Kreis eintreten. „Bei Wagner fehlen am Ende die Mütter, um ihre Töchter zu trösten, um sie zu ermutigen, Gegen-Welten wahrzunehmen zu denen der Väter, die längst dem Untergang geweiht sind“, kommentiert Stöppler ihren Schluss.

Für diese drastische Darstellung hat die Regisseurin die Bühnenbildnerin Annika Haller an ihrer Seite. Der Walkürenfelsen erscheint so karg und trostlos, wie man ihn besser nicht darstellen kann. Die Nibelungenhalle ist ein großer, kalter Raum mit einer modernen Bar, an der Hagen zunächst wie ein Barkeeper agiert, distanziert und doch alles im Blick. Auf einem Eisbärfell räkelt sich eine gelangweilte Gutrune, Champagner schlürfend und sich der Dekadenz hingebend. Die Kostüme von Gesine Völlm variieren zwischen stylisch hipp und elegant, lediglich Siegfried in Krachlederner sticht als Naturbursche aus dieser Gesellschaft heraus. Die Kampfmonturen der Soldaten sowie Brünnhildes und Waltrautes Kampfanzüge erinnern mehr an Kampfpiloten des Ersten Weltkrieges. Atmosphärisch aufgeheizt und immer wieder neue Facetten zeigend ist die beeindruckende Lichtgestaltung von Holger Reinke.

Die Premiere ist aber auch der Abend der großen Rollendebüts mit beeindruckenden Stimmen. Allen voran Stéphanie Müther als Brünnhilde und Daniel Kirch als Siegfried. Müther hat die strahlenden Höhen, die eine Brünnhilde braucht, und sie beherrscht die dramatischen Ausbrüche wie bei der Schwurszene, kann aber aufgrund ihrer warmen und etwas tiefen Mittellage auch in den Duetten mit Siegfried sehr viel Weiblichkeit in die Stimme legen. In der Schlussszene gibt sie eine sängerisch grandios strahlende Brünnhilde ab, die es mit dieser Vorstellung auf Anhieb in den Olymp der großen Wagnerstimmen schafft. In den zukünftigen Ring-Aufführungen wird sie alle drei Brünnhilden-Partien verkörpern, da darf sich das Chemnitzer Publikum auf erstklassigen Gesang freuen. Auch Kirch gibt mit der Partie des Götterdämmerungs-Siegfried ein umjubeltes Rollendebüt. Nach seinem fulminanten Auftritt als Jung-Siegfried scheint ihm diese Partie nun wie auf den Leib geschneidert. Ohne Mühen meistert er die Partie, sein Tenor hat große Stahlkraft in den Höhen, ein angenehmes Timbre in der Mittellage, und seine Diktion ist lehrbuchhaft, da bedarf es keiner Übertitel mehr. Die Duette mit Brünnhilde, besonders in der Abschiedsszene des ersten Aufzuges, sind reine Stimmenharmonie, sein Schlussgesang und letztes Gedenken an Brünnhilde voll beseelter Innigkeit. Herauszuheben sind dabei auch seine darstellerische Wandlungsfähigkeit und sein emotionaler Zusammenbruch während des Trauermarsches. Marius Bolos als Hagen ist auch stimmlich der grandiose Antiheld. Sein schwarzer, furchteinflößender Bass ist idealtypisch für diese Rolle, und wenn er seine Mannen im zweiten Aufzug ruft oder am Schluss gegenüber Gutrune verächtlich ausruft, dass er, Hagen, Siegfried erschlagen habe, dann liegt in seinem stimmlichen Ausdruck eine Stärke und gleichzeitig eine Gefühlskälte, die ihresgleichen sucht.

Pierre-Yves Pruvot fällt in der Rolle des Gunter stimmlich etwas ab. Die Töne stemmt er zu stark an, auch im Ausdruck scheint er sich in seiner Rolle nicht ganz so wohl zu fühlen und bleibt im Vergleich zu den anderen Protagonisten etwas blass. Demgegenüber ist der Auftritt von Cornelia Ptassek als Gutrune ausdrucksstark mit strahlenden Höhen. Anne Schuldt begeistert vor allem durch ihre intelligente Stimmführung und emotionale Interpretation der Rolle der Waltraute. Wie sie innig und voller Verzweiflung versucht, Brünnhilde zu überreden, ihr den Ring zu geben, um den Untergang Walhalls zu vermeiden, das geht unter die Haut. Ihre teils lyrische, teils dramatische Waltrauten-Erzählung ist ein weiterer Höhepunkt des Abends. Jukka Rasilainen hat nur einen Kurzauftritt als Alberich, doch den gestaltet er mit derselben Intensität und Boshaftigkeit, wie es ihm mit dieser Figur schon im Rheingold gelungen ist.  Anja Schlosser und Sylvia Rena Ziegler eröffnen gemeinsam mit Cornelia Ptassek als Nornen das Stimmenfestival, das durch Guibee Yang als Woglinde, Sylvia Rena Ziegler als Wellgunde und Sophia Maeno als Flosshilde mit ausdrucksstarkem Gesang und engagiertem Spiel abgerundet wird. Beiden Trios ist eine klare Diktion und eine ausgeprägte Stimmenharmonie gemein.

Auch der Opernchor darf an diesem Abend mit dem Auftritt als Hagens Mannen im zweiten und dritten Aufzug seinem umfangreichen stimmlichen Repertoire eine neue Facette hinzufügen. Kraftvoll, ohne zu dröhnen, und lyrisch, ohne zu säuseln, bildet der Chor, hervorragend eingestimmt von Stefan Bilz, eine musikalische Säule an diesem Abend.

Ein eindrucksvolles Premierendirigat liefert Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo am Pult der Robert-Schumann-Philharmonie ab. Schon im Nornen-Vorspiel erklingen die ersten Töne scharf und unheilvoll, als Vorboten des bevorstehenden Endes der Götter. Großartig der musikalische Übergang von der ersten zur zweiten Szene, wenn es plötzlich emotional und leidenschaftlich wird. Die Sänger begleitet er sensibel, immer darauf bedacht, deren Gesang in den Vordergrund zu stellen und dienlich zu begleiten und zu tragen. Aber Calvo ist auch ein leidenschaftlicher Dirigent, der an den reinen Orchesterstellen Gas gibt. Sei es in der Szene, wenn Hagen seine Mannen ruft oder Siegfrieds Rheinfahrt im ersten Aufzug. Doch der grandiose musikalische Höhepunkt ist sicher das große Finale. Zunächst begleitet er den sterbenden Siegfried im Piano, um sich dann beim Trauermarsch immer mehr ins Forte zu steigern.  Dieser Trauermarsch ist voller Emotion, Spannung und Trauer, ohne jedoch in ein übersteigertes Pathos zu verfallen. Zusammen mit dem Bild von Brünnhilde, die den sterbenden und weinenden Siegfried wäscht und letzten Trost spendet, ist dieser Moment der Höhepunkt des Abends, voller Gänsehaut und Gefühl. Aber Calvo kostet die Emotion nur kurz aus, springt wieder in die Realität der vorletzten Szene, dem vermeintlichen Kampf um den Ring als Beutegut, bevor mit Brünnhildes Schlussgesang und dem orchestralen Finale der Götterdämmerung der letzte musikalische Höhepunkt erfolgt. Als der Weltenbrand durch den über die Ufer tretenden Rhein gelöscht wird, bevor die Musik sich beruhigt und die Hoffnung auf eine neue Weltenordnung entstehen kann, macht Calvo eine winzige Pause. Er nutzt diese Fermate, um Atem zu schöpfen, um den Effekt des Wandels von der Zerstörung zur Erneuerung aufzuzeigen. Der Übergang zur beruhigten Orchestermusik, mit der von Nike Wagner bezeichneten „Melodie der Lebensrettung“ steht symbolisch für die Erlösung, aber auch für die Vollendung des Gesamtkunstwerkes. Calvo hat diesen Schluss auf beeindruckende künstlerische Art gelöst. Das Orchester folgt seinem präzisen Schlag, seinen Tempi-Wechsel und seinen Betonungen. Leider gibt es zwei, drei hässliche Verspieler bei den Bläsern, doch mindert das den musikalischen Gesamteindruck in keiner Weise.

Das wagnerkundige Publikum hält am Schluss für einige Sekunden inne, ehe der Applaus losbrandet. Insbesondere dankt es Calvo und der Robert-Schumann-Philharmonie mit großem Jubel und stehenden Ovationen. Aber auch die Sänger werden für ihre großartigen Leistungen gefeiert, allen voran Stéphanie Müller, Daniel Kirch und Marius Bolos. Das Regieteam um Elisabeth Stöppler erhält für diese drastische Inszenierung warmen Applaus, es gibt nur vereinzelte Buhs und Bravo-Rufe.

Nun hat sich der Vorhang geschlossen, die Ring-Tetralogie mit vier verschiedenen Regisseurinnen ist in einem Jahr über die Bühne gegangen. Erwartungsgemäß gibt es konzeptionell keinen roten Faden, jedes Werk hat seine einzigartige, spezifisch weibliche Ausrichtung. Und das eint wiederum das Gesamtwerk. Ein weiblicher Blick auf den Ring, und eine durchaus interessante Annäherung an die Frauenbilder im Ring. Insofern ist aufgegangen, was sich die Intendanz in Chemnitz zu Beginn des Jahres vorgenommen hat. Wie geht es weiter? Im Januar 2019 wird der Chemnitzer Ring erstmals im Zyklus gegeben, allerdings in einem doch langen Zeitraum von drei Wochen, was wiederum mehr für die Betonung des Einzelwerkes spricht als für den Ring als Gesamtkunstwerk. Dafür wird es dann zu Ostern und Pfingsten 2019 jeweils einen kompakten Ring-Zyklus geben. Vor allem musikalisch und sängerisch ist dieser Ring eine Reise nach Chemnitz wert.

Andreas H. Hölscher