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2067: TIME AND TIME AND TIME
(Alexandra Waierstall)

Gesehen am
24. April 2020
(Video on demand)

 

National Dance Company Wales, Cardiff

Nichts wird das Live-Erlebnis ersetzen! Davon ist auch die Choreografin Alexandra Waierstall überzeugt. Aber dank politischer Entscheidungen gibt es sie derzeit einfach nicht, die Aufführungen im richtigen Leben. Und es wird sie auf unabsehbare Zeit nicht geben. Für die Choreografin das eindeutige Signal, weiter zu lernen und sich auf das für die Tänzer „neue Medium“ Internet einzulassen. Waierstall weiß, dass das einfache Abfilmen einer Bühnenshow nichts mit dem Internet zu tun hat. Hier müssen ihrer Auffassung nach neue Räume, neue Erfahrungen geschaffen und tanzgerecht umgesetzt werden. Es müssen also Choreografien für das Internet entwickelt werden.

Natürlich hat Waierstall, die in England geboren und auf Zypern aufgewachsen ist, heute in Düsseldorf ihre Heimat hat, bislang das Internet als Marketing-Tool genutzt. Ihre Website ist absolut sehenswert. Und so fand auch ihr neuestes Stück 2067: Time and Time and Time, das sie im Februar gemeinsam mit der National Dance Company Wales entwickelt hat, als Livestream seinen Weg ins Netz, um es für künftige Tourneepläne vorzustellen. Da war sie auf der künstlerischen Ebene aber bereits viel weiter und die Choreografie auf der Probenbühne Vergangenheit. Der Stoff der in Cardiff entwickelten Choreografie allerdings erschien ihr bestens geeignet, um ihn als Grundlage für ihre Internet-Aktivität zu verwenden.

2013 schrieb Waierstall, als sie hochschwanger war und sich persönlich in so etwas wie einer Quarantäne-Situation fühlte, einen Text – oder sagen wir besser ein großartiges Gedicht – als Grundlage für eine spätere Arbeit. Manchmal geht das Leben seltsame Wege, und so wurde dieser Text Grundlage ihrer Choreografie, die sie in Wales umsetzte – kurz bevor die Krise in Form der Corona-Pandemie über die Welt hereinbrach. Vielleicht sind es auch die seismografischen Schwingungen der Künstlerin, die den zeitlichen Zusammenhang schaffen. Jedenfalls war das Stück für Waierstall als Werk der Vergangenheit Anlass genug, mit den Tänzern der National Dance Company Wales einen Blick in die Zukunft zu wagen. Im Team entschieden sie, den neuen Weg im Netz zu gehen und damit eine „Brücke zur Zukunft“ zu schlagen.

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Als Vehikel für ihre Arbeit verstand Waierstall die Zoom-Videokonferenz. Anders als die bloße Rekonstruktion, die viele andere derzeit versuchen, wenn sie etwa als Orchester einen Boléro schmettern, was auch schon technisch anspruchsvoll ist und hier keinerlei Abwertung erfahren soll, wollte die Choreografin ein neues Stück entstehen lassen, das aus dem Gezeigten erwächst. Und so ist ihre erste Internet-Choreografie dank gleichbleibender Elemente wie der Musik von Hauschka oder den tänzerischen Details, aber auch Bühnen- und Lichtelementen zu einem Organismus in vielen Bildern als Weiterentwicklung geraten. Die Bewegungssprache in den Einzelbildern wiederzuerkennen, hilft auch dem Betrachter, die Choreografie als Ganzes zu erkennen. Ob als Einzelperson, im Duo oder als Trio – je nach Wohnsituation – absolvieren die Tänzer ihr Pensum, das dank der Aufführung im Probenraum noch fest im Gedächtnis verankert ist. Da können Ideen und Prinzipien in andere Räume emigrieren, ohne zur Reproduktion zu werden. Dass der gesprochene Text, der schon in der Videofassung der Bühnenaufführung kaum verständlich war, hier auch nicht viel klarer zu hören ist, liegt an den Tücken der Technik. Waierstall nimmt es gelassen und als neue Erfahrung in der Welt der Pixel und Übertragungsschwächen. O-Ton setzt den Text im Anschluss an diesen Beitrag, weil Waierstall hier wirklich ein schönes Gedicht gelungen ist, dessen Poesie man nicht ungehört verhallen lassen mag.

Man wird die erste Internet-Choreografie Waierstalls nicht im ersten Durchgang erfassen. Aber je öfter man das Video on demand anschaut, desto eher erschließen sich auch die feinen Details wie eine Handführung in Großaufnahme, die man in einer Live-Aufführung so niemals in dieser Intensität wahrgenommen hätte. Es ist also nicht alles schlecht bei einer seriösen Umsetzung im Internet.

Und es steht ja jedem frei, sich das Künstlergespräch, das sich an die Aufführung anschließt, anzuhören, das auf Englisch geführt wird. Aber auch das ist sicher ein wichtiger Schritt in die digitale Wirklichkeit. Alexandra Waierstall hat mit dieser Choreografie einen großen Fußabdruck gesetzt und einmal mehr ihre überragende Qualität als Choreografin bewiesen. Das ist aber nicht die beste Nachricht. Denn Waierstall arbeitet bereits an ihrer zweiten Choreografie für das Netz. Und nein, es wird nicht ganz so aufregend wie die Aufführung werden, die man selbst im Saal erlebt, wenn man sich in der Dreidimensionalität der Akteure verlustieren kann. Aber Waierstall hat mit diesem Video gezeigt, dass im Internet andere Qualitäten überzeugen können. Chapeau.

Michael S. Zerban

 

Year: 2067
Latitudes and longitudes: 40.7142° N, 74.0064° W

In a room.
Reaching up to touch the ceiling facing south.
Freeze.
Back to standing, then reaching up again.
Heels. Two inches off the floor.
Land. Turning body. Facing north.
Temperature. Rising to forty degrees.
Sweat.
Moving down, lying to cool on the icy floor.
Little left finger. Traveling a distance of five centimeters upwards.
Elbow. Responding. Moving a distance of one meter and back. Stand.
Facing east.
The light in the room changes. Hearing it coming.
Wind.
Creating movement.
Standing still.
Sounding like a freight train getting closer.
Roaring sound.
Deafening.
All is shaking. Rumbling. Vibrating. The electricity goes off.
Silence.
Still.
Untouched.
The door opens.
All I see is blue sky.

Alexandra Waierstall