O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Attila Nagy

Aktuelle Aufführungen

Ein metaphorischer Zirkus bringt Chaos

VALUSKA
(Peter Eötvös)

Besuch am
2. Dezember 2023
(Uraufführung)

 

Ungarische Staatsoper in den Eiffel Art Studios, Budapest

Valuska von Peter Eötvös basiert auf dem Roman Die Melancholie des Widerstands von László Krasznahorkai. Das 1989 geschriebene Werk erzählt die Geschichte einer Kleinstadt, deren Bewohner durch die zunehmenden Anzeichen einer drohenden Katastrophe und die wachsenden Müllberge in den Straßen in Angst und Schrecken versetzt werden. Die Verwirrung wird eines Abends durch die Ankunft eines Wanderzirkus‘ mit nur einer Attraktion – den größten ausgestopften Riesenwal der Welt – und die Anwesenheit einer immer größer werdenden Schar von Fremden, die schweigend um ihn herum warten, noch verschlimmert. Die Zirkustruppe besteht nur aus dem Besitzer und seinem Assistenten, der den nie in Erscheinung tretenden, geheimnisvollen Prinzen mit drei Augen betreut. Das Chaos beginnt mit unerbittlichen Plünderungen, Brandstiftungen und Morden, die nur um ihrer selbst willen begangen werden. Valuska wird von der Menge, die überall sinnlose Verwüstungen anrichtet, mitgerissen und unfreiwillig Mitglied der gewalttätigen Schar. Das Chaos wird schließlich vom Militär gestoppt, doch auf die Wiederherstellung der Ordnung folgt eine neue und raffiniertere Form des Terrors, als die Stadt unter die Kontrolle eines betrügerischen politischen Regimes gerät, das von Bürgermeisterin Tünde geführt wird.

Foto © Attila Nagy

Im Laufe der Geschichte werden Themen wie persönliche Verzweiflung, gesellschaftlicher Verfall und der Kampf zwischen Ordnung und Chaos behandelt. Obwohl Péter Eötvös das Stück im Auftrag der Ungarischen Staatsoper in seiner Muttersprache Ungarisch komponiert hat, werden weder der geografische Ort noch die Nationalität der Bewohner erwähnt. Gerade das macht die groteske und absurde Handlung relevant für die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation in der Welt. Es ist das Unglaubliche, dass es schmerzhaft glaubwürdig macht.

Die Librettisten Keszthelyi Kinga und Mezei Mari haben den über 500 Seiten langen Roman – der sich durch seinen Schreibstil im Bewusstseinsstrom auszeichnet – für die Opernbühne verdichtet und dabei diese Elemente beibehalten, während sie den zentralen Figuren emotionale Tiefe und Persönlichkeitsentwicklung verliehen haben: Da ist zum einen János Valuska, der verträumte, idealistische, junge Mann, der bei den Bewohnern als Dorftrottel oder Einfaltspinsel gilt – er ist voller Unschuld und will nur das Gute in der Welt sehen; seine Mutter, Frau Pflaum, liebt ihn, lehnt ihn aber auch ab, weil er nicht normal sein kann; Tünde, die Opportunistin, die Bürgermeisterin der kleinen Stadt wird; ihr Mann, der angesehene Professor Werckmeister, der gegen seinen Willen in die Wirren hineingezogen wird, aber am Ende zu Valuska steht; der Zirkusdirektor, der zum Besuch seiner Attraktion, dem ausgestopften Wal, ermuntert; und eben der nie in Erscheinung tretende Prinz, der das Volk zum Aufstand gegen den Status Quo anstachelt, wie es sein Assistent ausdrückt. Von all diesen Personen sind Valuska und der Professor die „normalsten“, die für Werte eintreten, die wir als gut und ehrlich ansehen würden.

Regisseur Bence Varga füllt diesen dystopischen Ort, der eine beliebige Stadt, eine beliebige Gesellschaft in einem beliebigen Land widerspiegeln könnte, mit erschreckendem Einblick und Detailreichtum zum Leben. Botond Devichs Bühnenbilder sind minimal, aber wirkungsvoll – ein Laternenpfahl, der Container, in dem der Wal ausgestellt ist, ein Krankenhausbett – und werden durch die düstere, atmosphärische Beleuchtung von Sándor Baumgartner hervorragend unterstützt. Kostümbildner Kató Huszár lässt die Bevölkerung grau und trist aussehen im Vergleich zu den skurrilen Akzenten, die er extrovertierten Figuren wie der neu gewählten Bürgermeisterin Tünde mit ihrer rosafarbenen Hochsteckfrisur und einem von oben bis unten mit Orden bedeckten Armeeoffizier verleiht, der sich wie jemand aus Monty Pythons Ministry of Silly Walks verhält.

Eötvös ist bekannt für seinen innovativen und eklektischen Musikstil. In Valuska verwischt er die Grenzen zwischen traditioneller und avantgardistischer Musik und schafft eine einzigartige Klanglandschaft mit komplexen Rhythmen, lebendigen Texturen und einem ausgeprägten Sinn für Dramatik, die sein tiefes Verständnis für die Theatralik der Musik widerspiegelt. Sein Wissen um die Fähigkeiten der menschlichen Stimme und ihre Ausdrucksmöglichkeiten schaffen Harmonien, die zwar durch und durch zeitgenössisch, aber dennoch leicht anzuhören sind. Seine Partitur treibt die Erzählung voran und verleiht den Figuren eine Dimension des Verständnisses, indem sie ihre Emotionen besser zum Ausdruck bringt, als Worte es könnten. Er erreicht das mit einem Orchester mit einer kleinen Streicherbesetzung, die von einer symmetrischen Aufteilung der Blech- und Holzbläser umgeben ist, die jeweils links und rechts geteilt sind – zwei Kontrabässe links, zwei rechts, eine Wagnertuba links, eine rechts und so weiter. Das verleiht der akustischen Wahrnehmung eine lebendige Dimension. Kálmán Szennai dirigiert das hervorragende Orchester der Ungarischen Staatsoper mit einem feinen Verständnis für die Intentionen des Komponisten.

Foto © Attila Nagy

Valuska hat eine große Sängerbesetzung, angeführt von Zsolt Haja, dessen klarer und reiner Tenor seiner Figur Schärfe und Glaubwürdigkeit verleiht. Adrienn Miksch gibt ihrem warmen Sopran genau das richtige Maß an Zweifeln und Ängsten als seine Mutter. Die Rolle der Bürgermeisterin ist eine Glanzleistung für Tünde Szabóki, die nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch zeigt, dass es zielstrebiger Entschlossenheit bedarf, um ein Ziel zu erreichen. András Hábetler als dunkel getönter Bass-Bariton ist ihr Ehemann, der desillusionierte und verbitterte Professor, der widerwillig seinen Namen für die von seiner politisch ehrgeizigen, aber entfremdeten Frau vorangetriebene Bewegung „Glückliche Häuser – schöne Gärten“ hergibt.

Obwohl Eötvös seine Oper als Commedia tragica bezeichnet und es sicherlich Momente gibt, die zum Lachen anregen, ist es ein Lachen, das durch Metaphern hervorgerufen wird, die Situationen darstellen, mit denen man sich im heutigen gesellschaftspolitischen Gefüge und Kontext auf der ganzen Welt viel zu leicht identifizieren kann: persönliche und politische Gier. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Seine Fähigkeit, verschiedene musikalische Stile und Techniken nebeneinander zu stellen, die von Mikrotonalität bis hin zu narrativen Strukturen reichen, zeigt seine Vielseitigkeit und seinen kreativen Ansatz beim Komponieren. Die Musik gibt der Erzählung eine zusätzliche Ebene und unterstreicht die surreale, melancholische Atmosphäre von Krasznahorkais Texten.

Das Publikum würdigt Peter Eötvös und das gesamte Team mit Ovationen. Die Oper findet übrigens nicht in dem wunderbar neurestaurierten Opernhaus statt, sondern auf der Banffy-Bühne der Eiffel Art Studios – einem einzigartigen Ort, der jetzt die gesamten technischen Werkstätten der ungarischen Staatsoper beherbergt, aber ursprünglich 1886 als Reparaturhalle für 96 Lokomotiven erbaut wurde.

Zenaida des Aubris