O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Totentanz lebender Leichen

THE TURN OF THE SCREW
(Benjamin Britten)

Gesehen am
29. April 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

La Monnaie de Munt, Brüssel

Eigentlich ist die Bühne des Brüsseler Opernhauses für eine so filigrane Kammeroper wie Benjamin Brittens Psycho-Thriller The Turn of the Screw – Die Drehung der Schraube – zu groß. Mit der Hollywood-reifen Kameraführung des belgischen Aufnahmeteams geht bei der Online-Präsentation der Neuinszenierung von Andrea Breth allerdings kein Detail verloren. Und wenn die Bühne in der Totalen gezeigt wird, präsentiert sich eine trotz ihrer Größe bedrückende Niemandslandschaft, die die Figuren mit ihren Gefühlsschwankungen quasi einmauert. Die großen, meist verschlossenen Türen wirken wie Friedhofsmauern und wenn sie sich ab und zu öffnen, geben sie Einblick in eine Welt voller Lebewesen, die zwischen dem Dies- und Jenseits, zwischen Leben und Tod schwanken. Oft bewegungslos schlafend oder in Zeitlupentempo dahinsiechend.

Es ist ein beklemmendes Szenario, das Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt für Breths hoch konzentrierte und diffizil ausgearbeitete Inszenierung erstellt hat. Ein dunkles dazu, wozu auch die ausnahmslos schwarzen Kostüme von Carla Teti gehören. Wir begegnen Menschen, die von Traumata der Vergangenheit beherrscht werden und denen keine Chance gegeben wird, in der Gegenwart anzukommen und darin zu überleben. Es ist ein spirituell inszenierter Totentanz lebender Leichen, in das die Gouvernante wie aus einer anderen Welt eindringt und darin scheitert. Eingefroren in grandiose Bilder, wenn der kleine Miles bewusstlos aus dem Korpus eines Konzertflügels hängt und langsam wie aus einem aufbrechenden Grab aufersteht. Immer wieder überrascht Breth mit unerwarteten Bildern, wenn Figuren aus dem Nichts aufsteigen oder aus verborgenen Nischen erscheinen.

Foto © Bernd Uhlig

Auf den ersten Blick ist die Handlung des Werks so einfach wie ein banaler Horrorfilm: Eine Gouvernante soll sich um zwei Kinder in einem abgeschiedenen Schloss kümmern, die offenbar unter dem Einfluss eines verstorbenen Dienerpaars stehen. Die fröstelnde Anwesenheit der „Geister“ setzt bei der Gouvernante eine „Schraube der Angst“ in Bewegung, die letztlich in eine Katastrophe führt. Dabei gehen Britten und seine Librettistin Myfanway Piper natürlich erheblich subtiler als ihre Film-Kollegen vor. Und Ben Glassberg zieht am Pult des dreizehnköpfigen Instrumentalensembles der Brüsseler Oper alle Register, um die Spannung und die bizarre Farbigkeit der Partitur zum Klingen zu bringen.

Das Ensemble ist an idiomatischer Treffsicherheit und darstellerischer Glaubwürdigkeit kaum zu übertreffen. An der Spitze Sally Matthews, die in der kräftezehrenden Partie der Gouvernante ein unerschöpfliches Reservoir an psychischen Fassetten zum Ausdruck bringt. Stimmlich in jedem Ton sicher und mühelos ansprechend. Carol Wilson bewältigt die ebenfalls große Rolle der älteren Mrs. Grose taufrisch und nicht weniger souverän als ihre jüngere Kollegin. Giselle Allen komplettiert das hochkarätig besetzte Damen-Trio als verblichene Kinderfrau Miss Jessel. Julian Hubbard erinnert als verstorbener Diener Peter Quint stimmlich mit seinem kulturvierten, androgyn timbrierten Tenor an große Vorbilder wie Peter Pears. Ein Sonderlob gebührt den Darstellern der Kinderrollen, den einzigen nicht aus England stammenden Sängern der idiomatischen Besetzung. So Henri de Beauffort vom Kinderchor des Monnaie-Theaters als Miles, dem sowohl Britten als auch die Regisseurin viel abverlangen. Eine rollendeckendere Besetzung lässt sich kaum vorstellen, was auch für Katharina Bierweiler vom Cantus Juvenum Karlsruhe in der Rolle der Tochter Flora gilt.

Die bereits erwähnte Kameraführung vertieft mit ihren raffinierten Perspektivwechseln die Eindringlichkeit der feinen Personenführung Breths, die in der Totalansicht einer Live-Aufführung in dieser Detailgenauigkeit weit weniger zur Geltung gekommen wäre. Was natürlich nicht als generelles Plädoyer für Streaming-Produktionen und erst recht nicht als Abwertung des guten alten und in den meisten Fällen immer noch spannenderen Live-Theaters verstanden werden soll.

Pedro Obiera