O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Karl Forster

Aktuelle Aufführungen

Gulag-Oper aus Italien

SIBIRIEN
(Umberto Giordano)

Besuch am
21. Juli 2022
(Premiere)

 

Bregenzer Festspiele, Festspielhaus

Es zeugt von einer klugen, geradezu raffinierten Programmgestaltung der Bregenzer Festspiele, der Hauptproduktion auf der Seebühne, Puccinis verführerisch süßlicher Madama Butterfly, im Festspielhaus mit Umberto Giordanos Oper Sibirien einen denkbar scharfen Kontrast folgen zu lassen. Dabei sind beide Stücke 1903 in zeitlicher Nähe in der Mailänder Scala aus der Taufe gehoben worden. Giordanos herbes Stück mit großem, Puccinis späterer Bestseller nur mit geringem Erfolg.

Die triste Handlung in Anlehnung an Tolstois Roman Auferstehung in einem sibirischen Straflager wie auch die schroffe musikalische Umsetzung bilden einen Höhepunkt des italienischen Verismo, den in dieser realitätsnahen Konsequenz weder Mascagni, Leoncavallo oder Puccini mit Il Tabarro erreichten. Dass man in Bregenz ein junges russisches Leitungsteam engagiert, fördert die Entschärfung der italienischen Einflüsse. Der 36-jährige Dirigent Valentin Valentin Uryupin feuert die Wiener Symphoniker geradewegs zu einem stampfenden Ritt durch den Gulag an.

Der Musik scheint Mussorgsky Pate gestanden zu haben, der deklamatorische, auf Arien verzichtende Umgang mit den Singstimmen und die alles andere als liebliche Klanggestaltung weisen bereits auf spätere Gulag-Opern wie Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus oder Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk hin.

Foto © Karl Forster

Die Handlung kreist um die skrupellos ausgebeutete Edelkurtisane Stephana, die dem aufrichtigen Liebhaber Vassili in die sibirische Verbannung folgt, als der Stephana gegen einen aufdringlichen Fürsten verteidigte. Bei einem Fluchtversuch kommt Stephana um. Konversationsreiche Dialoge und ausladende Genreszenen aus dem Lagerleben lassen keinen Raum für italienische Süßlichkeiten. Dramaturgisch läuft alles wie im Zeitraffer ab, konzentriert auf nicht einmal zwei Stunden.

Der 38-jährige Regisseur Vasily Barkhatov fügt die Handlung in eine dezente, dem Werk angemessene Videosequenz ein, in der eine alte Frau mit der Urne ihres verstorbenen Bruders der Geschichte ihrer Eltern nachspürt und die originalen Orte zwischen St. Petersburg und der sibirischen Einöde aufsucht. Wobei die Bühnenbilder von Christian Schmidt durch die authentischen Videoeinblendungen an realistischer Schärfe gewinnen und zugleich ein kritisches Licht auf die russische Geschichte werfen, wenn das mondäne Palais, in dem Stephana missbraucht wurde, heute zu einer trostlosen Plattenbausiedlung verkommen ist. Ein Werk, das die russischen Gäste zu einer Anklage gegen den Stalinismus und dessen heute noch spürbaren und an Einfluss gestärkten Folgen formen. Ein wichtiger Beitrag gegen Tendenzen, die russische Kultur im Sog des Ukraine-Kriegs pauschal zu diskreditieren anstatt die vielen russischen Kräfte, die unter Putin und seinen Vorgängern gelitten haben und ein freiheitliches, humanes Russland ersehnen, zu unterstützen. Umso wichtiger ist es auch, dass den leider nur drei Aufführungen in Bregenz im März kommenden Jahres eine Serie von sieben Vorstellungen an der Bonner Oper folgen wird.

Es sind keine dankbaren Aufgaben, die Giordano seinen Sängern abverlangt. Gleichwohl anspruchsvolle, emotional hoch geladene, stärker dem Sprachduktus als italienischem Melos angepasste Stimmungsbilder, die Ambur Braid als Stephana, Alexander Mikhailov als Vassili und Scott Hendricks als zynischer Zuhälter Gleby souverän ausführen.

Überaus begeisterter Beifall für die beklemmend brutale humane Botschaft nach der teilweise vom Gewitter verwehten Butterfly.

Pedro Obiera