O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Coronesk

LA CALISTO
(Francesco Cavalli)

Besuch am
2. Oktober 2020
(Premiere)

 

Theater Bonn, Opernhaus

1651 kommt am venezianischen Teatro Sant‘ Apollinare zur Karnevalszeit Francesco Cavallis La Calisto heraus. Das Dramma per musica in drei Akten und einem Prolog auf ein Libretto von Giovanni Faustino nach Ovids Metamorphosen ist auf die begrenzten Verhältnisse des kleinsten Theaters der Lagunenstadt zugeschnitten. Gerade einmal sechs Musiker sind aufgeboten. Auf einen Chor wird gänzlich verzichtet. Nach Ende der Glanzzeit der venezianischen Oper sind Cavallis – je nach Quelle – 32 bis 42 Opern weitgehend vergessen, auch La Calisto. Erst Ende der 1960-er Jahre erweckt der Dirigent Raymond Leppard das Stück aus seinem Dornröschenschlaf. Die Ovid-Episode um die Waldnymphe Kallisto wird wieder aufgeführt, zuletzt am Staatstheater Nürnberg. Auch mit größerem Orchesterapparat.

Dass das Theater Bonn bei der Neuausrichtung seines Spielplans auf der Suche nach einer „Corona-affinen“ Oper nun ausgerechnet bei dem vor 350 Jahren uraufgeführten Kunststück Cavallis fündig wird, dürfte die Reihe der Besonderheiten in der Rezeptionsgeschichte des Werks angemessen fortsetzen. Die rigorose Kürzung der Originalpartitur von drei Stunden auf die Hälfte macht die Sache passgerecht. Urheberrechtliche Einsprüche hiergegen sind ohnehin kein Thema. Das Genre Barockoper bedient zudem das aktuell offenkundige Bedürfnis vieler nach Entschleunigung. Das Beethoven-Orchester Bonn (BOB) stemmt die musikalische Aufführung mit nicht mehr als zehn Musikern. Quasi eine Reprise des Originals. Beteiligt sind Violinen, Cello, Theorbe – eine Variante der Laute – Cembalo und Orgel. Unter dem außerordentlich einfühlsamen Dirigat von Hermes Helfricht entfalten die Instrumentalisten in ihrer jeweiligen Solo-Funktion wie als Tutti einen Cavalli-Klang, der schon nach wenigen Minuten die quantitative Begrenzung des gesamten Unterfangens vergessen lässt. Bonn macht Cavalli nicht nur aufführbar, sondern goutierbar. Wie in Opern des Cavalli-Kollegen Händel, die eher aus Kosten- denn aus künstlerischen Gründen sine coro konzipiert sind, formieren sich die Sängerdarsteller zum Finale wie ein Schlusschor. Vereinen sich als „himmlische Geister“, womit die Sache schlussendlich ins nicht mehr Fassbare, ins Metaphysische ausgreift.

Nur auf den ersten Blick hat der Stoff, den der Librettist und Theatermanager Faustini dem Hauptwerk des antiken römischen Dichters abgewinnt, uns Heutigen wenig zu sagen. Zumal unter dem Vorzeichen der Pandemie, da mit dem Wiederanfahren der Kultur erste Antworten auf die Verhältnisse nach Corona erwartet werden. La Calisto ist ein Werk der Unterhaltungsindustrie des Frühbarock, geschrieben für ein Publikum, das für sein Vergnügen zahlt und folglich eine Entsprechung erwartet. Vordergründig geht es daher um allerlei galante Händel und grobes Werben im Zeichen der bella amore, in die sich allerlei Fantasiegestalten verstricken. Doch Ovids respektive Faustinis mythische Geschichten um Verführung und Entsagung, Hingabe und Verbannung sind letztlich nur die Hülle für den archaischen Kern der menschlichen Gesellschaft: Geschlechterkrieg, sexuelle Gewalt, soziale Ausgrenzung der Opfer. Wer nicht ins Spiel passt, wird ausrangiert. Wird zur Strafe in ein Tier, hier eine Bärin, verwandelt und als Sternbild am Himmel, hier zum Großen Bären, materialisiert. Das geschieht der Nymphe Calisto, die es gewagt hat, sich aus lauteren Motiven den Mächtigen wie Giove, also Jupiter, zu verweigern.

La Calisto zeichnet sich ungeachtet der Rigidität des Stoffes nicht durch die Brutalität der Vertonung eines Shakespeare-Stoffs für die Bühne wie Verdis Macbeth aus. Regisseur Jens Kerbel lässt seine Inszenierung daher auch passend auf dem schmalen Grat zwischen Tragödie und Komödie wandern. Den komödiantischen, ironisch mit zahlreichen Facetten spielenden Pol unterstreichen die Kostüme Verena Polkowskis. Sie akzentuieren noch die irrwitzigen Passagen der Protagonisten, wenn die sich im Stil der Commedia dell’Arte bewegen. Den Seria-Pol verdeutlichen eindrucksvolle, teils verblüffende Videoprojektionen des Kreationsteams Torge Møller und Momme Hinrichs, die für das Bühnenbild verantwortlich zeichnen und nach ihrem Debüt mit Giovanna d’Arco 2014 an das Bonner Haus zurückkehren.

Foto © Thilo Beu

Die Geschichte spielt an einschlägigen antiken Schauplätzen, auf dem Berg Lycaon, im Empyreum und zu Beginn im mythischen Arkadien. Doch alles Arkadische ist zerstört, verbrannt, seitdem Phaeton sich vergeblich zugetraut hat, den Sonnenwagen eigenhändig zu lenken. In den Visionen der Filmemacher gelingt es Giove mit einer simplen Handbewegung, eine Quelle aus dem vertrockneten Boden hervorsprudeln zu lassen. Ist eben noch die Nymphe auf der Suche nach Wasser über den verödeten Boden gerutscht, macht nun die Videostilisierung einer blühenden Landschaft Furore. Ein „grünes“ Signal in der Stadt, in der gerade eine Politikerin der Grünen zur Oberbürgermeisterin gewählt worden ist? Eine Anspielung auf die Option der Menschheit, noch eine Zerstörung des blauen Planeten stoppen zu können? Während im Prolog die allegorischen Charaktere Ewigkeit, dargestellt von Susanne Blattert, Natur, gespielt von Charlotte Quadt, und Schicksal, aufgeführt von Marie Heeschen, die Gestirne als übernatürliche Instanz beschwören, ziehen Planeten in stiller Majestät ihre Videoschneise über den Bühnenhintergrund. So gelingen Møller und Hinrichs in dieser Corona-Adaption eines Barockjuwels jedenfalls einige pittoreske Bebilderungen des Geschehens. Einfach coronesk!

In der Nachfolge Claudio Monteverdis erweisen sich Cavallis Opern als stilbildend für die venezianische Oper, insofern er die überkommene Alleinstellung des Rezitativs durch ariose Einschübe auflockert und so die Trennung von Arie und Rezitativ vorbereitet. Was die Bonner Instrumentalisten – auf halber Höhe des Orchestergrabens – und das famose Ensemble des Bonner Theaters an Barockzauber hervorbringen, nötigt höchsten Respekt ab. Vortrefflich gelingt die musikalische Grundierung im Dienst der Schilderung von Geschehen und Stimmungen mit behutsam gesetzten dramatischen Aufschwüngen, die bereits Anklänge an Crescendi-Techniken erkennen lassen, wie sie nach 1750 typisch sein werden. Und erstaunlich gut kommen die Sängerdarsteller mit der Musiksprache Cavallis zurecht, die gerade erst Kagels sperriges Staatstheater gestemmt haben.

Allen voran die tschechische Sopranistin Lada Bočková in einem souveränen Debüt am Bonner Haus, Tobias Schabel als Giove mit wohltemperiertem Bass, der Counter Benno Schachtner in der Rolle des Hirten Endimione und die Mezzosopranistin Charlotte Quadt als Diana und deren verwandeltes Alter ego Giove in Diana. Als Giunone schöpft Marie Heeschen einmal mehr aus ihrem großen Talent. Die Ensemble-Stützpfeiler Martin Tzonev als Silvano und Giorgos Kanaris als Mercurio erfüllen ihren Part mit gekonnter Routine. Drollige Gender-Turbulenz erzeugen Susanne Blattert, die Pan, dem Gott der Hirten, ihre Stimme schenkt, Ava Gesell als Waldgeist Satirino und der Tenor Kieran Carrel, der der Nymphe Linfea prägnante Konturen verleiht.

Das Publikum im Corona-formatierten Saal schließt in seinen anhaltenden Schlussbeifall für alle Mitwirkenden, durchsetzt von einigen Bravo-Rufen, auch das Regieteam ein. Wie an anderen Musiktheatern in diesen Tagen dürfte der Applaus nicht nur die Zustimmung zu einem Opernerlebnis ausdrücken. Vielmehr auch den weithin ungestillten Hunger nach Oper, vielleicht nach einem neuen Arkadien.

Ralf Siepmann