O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Aktuelle Aufführungen

Himmlisch

LA CENERENTOLA
(Gioachino Rossini)

Besuch am
7. November 2021
(Premiere)

 

Theater Bonn, Opernhaus

Rund um die Oper Bonn mit ihrer teilweise bröckelnden Fassade gibt es einiges, das klemmt. Die seit langem schwelende Entscheidung der Bundesstadt etwa, ob das Haus am Rhein saniert oder abgerissen und durch einen Neubau an angestammter oder anderer Stelle ersetzt wird. Da ist das Klemmen des Bühnenvorhangs unmittelbar nach der Ouvertüre zu La Cenerentola vermutlich das kleinste Übel. Zumal der faux pas nach einer energischen Intervention von Dirigent Rubén Dubrovsky recht bald ausgebügelt ist. Was sich danach dem Bonner Premierenpublikum bietet, ist ein Rossini-Spektakel der Exzellenz. Belcanto der gehobenen Klasse, Spielfreude mit Witz, innovativen Randfiguren und Commedia-dell’Arte- und Slapstick-Einfällen sowie eine Bühnenausstattung, die Rossinis Dramma giocoso auf das Libretto von Jacopo Ferretti das Märchenhafte belässt, das nicht nur jungen Besuchern ein Funkeln in die Augen zaubert.

La Cenerentola nach der Fabel von Aschenputtel und Prinz, halb buffa, halb semiseria, ist im Grunde eine Geschichte von oben und unten. Sie passiert seit 200 Jahren auf allen Opernbühnen der Welt mit dem Vorzug, dass sie gut ausgeht und das Glück schenkt, das wir märchenhaft nennen. Sie erzählt von einer Welt, die streng trennt zwischen der feinen Herrschaft und ihren Bediensteten. Die da oben sind aber weder fein, geschweige nobel. Und die da unten, die sich in Staub und Küchendreck schinden, müssen auch noch erleben, im Grunde verachtet zu werden.

Angelina, die Cenerentola, lebt bei Don Magnifico und seinen beiden Töchtern Clorinda und Tisbe. Der Stiefvater hält Angelina wie eine Magd im Haus, nachdem er sie um ihr ganzes Vermögen gebracht hat. Da sie aber im Gegensatz zu ihren törichten Schwestern über Herzensgüte verfügt, wendet sich ihr Schicksal. Sie trifft auf den Fürsten Ramiro, der zusammen mit seinem Diener Dandini auf Brautschau ist. Il principe, der Fürst, verliebt sich in die vermeintlich aschgraue Maus und nimmt sie zur Frau. Im lieto fine findet Angelina ihren Frieden mit den garstigen Schwestern und gewährt ihnen Verzeihung, ihre Version der Vergeltung. Angelina und Ramiro genießen die Huldigungen der Höflinge.

Dem Prinzip von oben und unten folgt Leonardo Muscatos Neuinszenierung  auf vielschichtige Weise. In der sozialen Dimension, in der Beziehung der Geschlechter, in der Ausstattung und selbst in der vokalen Architektur, die Rossini um die Jahreswende 1816/17 angeblich in 24 Tagen für das Teatro Valle in Rom kreiert. Ein neuerlicher Gipfelsturm des Belcanto unmittelbar nach den Meisterwerken Il barbiere di Siviglia und Otello, beide aus Rossinis „Krönungsjahr“ 1816.

Die Bühne, die Andrea Belli, unterstützt durch die famose Lichtregie Max Karbes, der Inszenierung hat angedeihen lassen, setzt das Prinzip von oben und unten plastisch um. Hier das Märchenschloss des Prinzen. Dort das Heim des Don Magnifico, dessen bessere Tage schon lange Geschichte sind. Im ersten Bild haust Angelina in einem notdürftig von einem offenen Feuer gewärmten Raum unter einer Brücke. Tiefer ist ihr gesellschaftlicher Rang kaum darstellbar. Dank der Drehbühne wandelt sich die Brücke zum stilvoll möblierten Interieur eines feudalen Anwesens, überwölbt von einer Empore, zu der eine Freitreppe hinaufführt. Dort, nun ganz oben, entsagt Aschenputtel, wenn alle Welt sich zum Fest des Fürsten aufmacht, dem „äußeren Glanz und der Schönheit gleichermaßen“.

Ebenfalls dort erscheint sie zum fulminanten finalen Abschiedsrondo Nacqui all’affanno – Non più mesta zusammen mit dem Chor. Einzig Alidoro, auf den sich Muscato eine spezielle Sicht erlaubt, durchbricht das Prinzip der hierarchisch getrennten Ebenen. Der Erzieher Ramiros schreitet wie ein Spielleiter oder Schiedsrichter durch die räumliche und soziale Ober- und Unterschicht dieser Produktion, nimmt in Augenschein, durchmisst den Raum wie ein Wanderer der verschiedenen Welten. Einige Jahrzehnte später, möchte man meinen, wird er mit Speer und Augenklappe in Richard Wagners Siegfried wieder auftauchen.

Foto © Thilo Beu

Nicht von ungefähr ist Angelina, Engelchen, Aschenputtels Name in Charles Perraults Cendrillon ou La petite pantoufle de verre von 1697. Ferrettis Libretto baut auf dieser Version auf. Gar als „Rache eines Engels“ deutet William Weaver, Experte für italienische Literatur, den Stoff. Muscato nimmt diesen Aspekt auf komödiantische Art auf. Fünf Engel, himmlische Randfiguren in langen weißen Gewändern mit den obligaten Flügelchen und Blumenkranz im Haar, umgarnen und necken die Protagonisten, fächeln ihnen Wind oder Odem zu, wie es halt gebraucht wird. Nicht nur für sie hat Margherita Baldoni geradezu himmlische Kostüme geschaffen.

Prachtvoll, um nicht zu sagen: märchenhaft, die Roben der gehobenen Gesellschaft. Ein Gag die Maskerade des leicht einfältigen Magnifico, dessen Träume nur bis zum Rand einer möglichst dickbauchigen Flasche reichen, nachdem er als Kellermeister in spe aus 30 Fässern Wein probiert hat. Ein reines Vergnügen das Outfit der stets im Widerstreit befindlichen Töchter, die sich permanent als Kandidatinnen auf dem Heiratsmarkt wähnen. Wie eine Hummel die federnde Clorinda, wie ein Pfau die borstige Tisbe. Ein geschneidertes Bonmot die Uniformen des fürstlichen Hofstaats. Erst entern die Herren des Bonner Theaterchors wie zu Pferde die Arena. Als Prinzengarde im grünen Rock samt schwarzem Zylinder, wie gerufen zur bald beginnenden Karnevalssession. Dann als Dienerschaft in weißer Livree, speziell akzentuiert durch eine Art Höckerhaarschnitt. Ein Vorzug des von Marco Medved einstudierten Chores: Die Herren vermögen sich nicht nur famos zu bewegen. Sie singen auch prächtig. Ihr Auftritt löst dann auch einen anhaltenden Szenenapplaus aus.

Regisseur Muscato, in Bonn noch mit einer Inszenierung von Händels Serse von 2018 in Erinnerung, ist ein Vollblut des Theaters und traumwandlerisch sicher im italienischen Fach. Das Prinzip seiner Inszenierung heißt Tempo in der Aktion und Esprit in der Personenführung. Dabei bleibt genügend Raum für den Subtext der Semiseria, das Leid wie die Empathie von Aschenputtel, die den Glücksgefühlen der Cenerentola vorausgehen, ehe sie wie italienischer Perlwein sprudeln. Zur Belohnung aller darf Alidoro von der versammelten Bagage Fotos mit der Aufnahmetechnik des frühen 20. Jahrhunderts schießen. Was gut ist, soll ja auch dokumentiert sein.

Sternstunden à la Rossini gelingen stets dann, wenn sich Regie und Musik auf ein Ensemble von Sängern stützen können, die sich auch als Schauspieler verstehen. Rossinis Buffa-Werke bieten in ihren Referenzinszenierungen etwa von Jean-Pierre Ponnelle im Verein mit Claudio Abbado hierzu besten Anschauungsunterricht. Diesem Ideal kommt die Bonner Aufführung schon ziemlich nah, speziell in den Sextetten des zweiten Aktes, die das Publikum regelrecht verwöhnen. Ihr zentrales Movens ist die stilsichere Zusammenarbeit Muscatos mit Dubrovsky am Pult des Beethoven-Orchesters Bonn (BOB), die auch umgekehrt beschreibbar ist. Auf die Pose, auf die Mimik, auf die Pause zwischen zwei Aktionen genau abgestimmt interpretieren die Akteure des BOB Rossinis Partitur, eine Abfolge von Stromschnellen, besser bekannt als Crescendi, und Wasserkaskaden, melodischen Kapriolen, die die Koloraturen des singenden Personals umkleiden. Auch dank der sorglichen Linienführung am Hammerklavier, die bei Elia Tagliavia in den besten Händen liegt.

In der Titelrolle ist die Mezzosopranistin Luciana Mancini, als Gast verpflichtet, eine Spitzenbesetzung. Schon Una volta c’era un re, ihre Sehnsuchtsarie zu Beginn, macht mit warmer Tonfärbung und ausgeglichenem Tonregister klar, dass dies ihr Abend wird, sei es in der lyrischen Innigkeit der Armen wie in der prätentiösen Pose für den Ball des Fürsten. Prächtig harmoniert Bonns einstiger Serse mit dem argentinischen Tenor Francisco Brito, der den Don Ramiro mit Spinto-Qualitäten und intensivem Spiel verkörpert. So im wunderbar gebauten dreistufigen Duett Tutto è deserto – Un soave non so che. Über die ganze Strecke wird aber klar, dass Brito Mancini den Vorzug lassen muss, da es in dem Seelendrama wie in der sängerischen Ausarbeitung auch das Prinzip von oben und unten gibt. La Cenerentola ist, modern gesprochen, das Märchen von der sich behauptenden Frau, was diese, also Mancini, mit prächtigen Koloraturen und atemberaubenden Tonsprüngen unter Beweis stellt, die noch weiter nach oben reichen als die Treppe zur Balustrade im Bühnenbild.

Alle drei weiteren Männerpartien überzeugen auf ihre Weise. Martin Tzonev gibt Don Magnifico als Erzkomödianten mit großem Gespür für die Buffo-Elemente dieser Rolle. Der Bariton Carl Rumstadt ist als Dandini so etwas wie eine Entdeckung des Abends. Lisandro Abadie ist ein Alidoro der subtilen Töne und geschmeidigen Bewegungen. Die Sopranistin Marie Heeschen als Clorinda und ihre Mezzo-Kollegin Charlotte Quadt als Tisbe lohnen dank ihrer Spielfreude und ihrer erkennbaren Lust am Singen allein schon den Besuch. Vielleicht wäre es für kommende Aufführungen angeraten, wenn sich Heeschen im Zusammenspiel der beiden Schwestern in der vokalen Ausrichtung hier und da ein Stück zurücknähme.

Für Bonner Verhältnisse fällt der Schlussbeifall, durchmischt von etlichen Bravi-Rufen, für alle Mitwirkenden außergewöhnlich intensiv aus. Die kommende Session des Karnevals hat eine adäquate Heimstatt gefunden, sollte sie im Saale weitgehend ausfallen. Nur zu, ihr Jecken.

Ralf Siepmann