O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Überraschende Kombination

AMEN HAYR SURB
(Lilit Tonoyan, Davit Melkonyan)

Besuch am
2. August 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Brotfabrik Bonn, Dialograum Kreuzung an St. Helena

Manche Musiker unternehmen wirklich alles, um ihr potenzielles Publikum abzuschrecken. Das ist in diesen Tagen ziemlich schwierig, weil die Menschen so ziemlich alles wahrnehmen, über dem Musik steht. Man muss ihnen nur sagen, dass es stattfindet. Die Brotfabrik Bühne Bonn ist da eigentlich ein ganz schlechtes Beispiel. Im Dialograum Kreuzung an St. Helena, einer kirchlichen Einrichtung an der Bornheimer Straße, deren Name vermutlich nur die dort ansässige Gemeinde versteht, hat die in Godesberg beheimatete Brotfabrik eine Aufführung angesetzt. Das muss man mal finden! Auf der Website findet man erst nach gezielter Suche nach dieser speziellen Veranstaltung einen Hinweis, viele Klicks sind nötig. Einfacher ist es vermutlich für Eingeweihte, die sich in den so genannten Sozialen Medien der Brotfabrik angeschlossen haben.

Nur in dieser speziellen Kombination ist es vermutlich möglich, dass im Saal Plätze leer bleiben. Denn wer will schon armenische Sakralmusik in Kombination mit der Musik von Johann Sebastian Bach hören, wenn er nicht einmal davon erfährt? Zu aller Überraschung steht auf dem Abendzettel auch noch das Logo vom Alte-Musik-Festival. Das ist beim besten Willen auf der Website nicht zu finden und bleibt auch bei einer Suchmaschine ohne Ergebnis. Höchst bedauerlich.

Lilit Tonoyan – Foto © O-Ton

Lilit Tonoyan ist im armenischen Jerewan geboren und aufgewachsen. 2007 kam sie mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Köln an die Hochschule für Musik und Tanz, wo sie fünf Jahre später mit dem Master abschloss. 2015 wurde sie zu den 100-jährigen Gedenkfeierlichkeiten des armenischen Genozids in ihre Heimat eingeladen. Seither befasst sie sich intensiv mit armenischer Sakralmusik. In eigenen Arrangements bringt sie die mündlich überlieferte Musik auf ihrer Geige dem Publikum näher. Gemeinsam mit dem Cellisten Davit Meikonyan, der ebenfalls aus Armenien stammt, entwickelte sie ein Programm, das die beständige Auseinandersetzung von Streichern mit Johann Sebastian Bach mit armenischer Sakralmusik kombiniert. Inzwischen haben die beide ihre Arrangements auf dem Album Amen Hayr Surb eingespielt.

Will man das hören? Ja. Man will. Man muss. Weil es eine großartige musikalische Erfahrung ist. Der Veranstaltungsort versteht sich als Dialograum für christlichen Kult und zeitgenössische Kultur. Ein Blick auf das Programm eröffnet ganz neue Perspektiven. Von außen wirkt er eher wie ein Bunker. Eine Treppe führt hinauf zum Saal, der an einen ausgesegneten Kirchenraum erinnert. An der Backsteinwand im Hintergrund erinnern dunkle Schatten daran, dass hier mal irgendetwas gehangen haben muss. Auf einem Holzpodium in der Mitte des Saals ist ein Altarstein zurückgeblieben. Davor stellen sich die Musiker auf. Auf der linken Seite gibt es eine Empore, an deren Rückwand der Triebriemen einer Glocke zu sehen ist, die pünktlich um 18 Uhr in Betrieb geht. Auf der rechten Seite erlauben Oberlichter den Einwurf natürlichen Lichts, das zusätzlich von Scheinwerfern und Deckenbeleuchtung unterstützt wird. Die Akustik ist ausgesprochen angenehm. Hier kann man sich als Streicherduo richtig wohlfühlen.

Davit Melkonyan – Foto © O-Ton

Der Abendzettel gibt, wie sich bald herausstellt, eher einen ungefähren Fahrplan vor. Tonoyan und Melkonyan begeben sich an ihre Plätze und beginnen zu spielen. Mein zitterndes Herz – Sirt im Sasani – erklingt, eine Gründonnerstagshymne aus dem 13. Jahrhundert. Weiter geht es kommentarlos mit einem Herr, erbarme Dich – Ter voghormea – aus dem Mittelalter in verschiedenen Bearbeitungen, mit dem sich Tonoyan im eigenen Arrangement einigen Ruhm erwarb, also eine echte Preziose. Die ersten Besucher schließen die Augen und lassen sich vom virtuosen Spiel auf historischen Instrumenten sanft dahintreiben. Aber nicht alle. Eine Besucherin nutzt die Lücke zwischen zwei Stücken. „Können Sie dazu auch mal was sagen, was Sie da spielen?“, fragt sie. Herrlich. Das sollte viel öfter passieren in deutschen Konzertsälen. Ein Besucher, der wissen will, was da eigentlich gespielt wird, wenn er sich schon auf die fremde Kultur einlässt. Tonoyan ist irritiert. Steht ihr zu. Schließlich ist schweigender Konsum das Normale. Sie werde Fragen im Anschluss beantworten, jetzt wolle man sich auf die Musik konzentrieren. Zu Unrecht gibt sich die Besucherin damit zufrieden, entschuldigt sich gar. Ein paar Stücke später hat Melkonyan darüber nachgedacht und interveniert. Es geht ja schließlich nicht darum, das Konzert zu stören, sondern darum, Interesse an einer fremden Musik zu äußern. Und wie man erlebt, reichen ein paar Worte, um das Publikum noch mehr in eine andere Welt einzutauchen, die vom ersten Bogenstrich an fasziniert.

Der Cellist bestätigt, dass man hier viele verschiedene Instrumente ebenso wie Stimmen hören kann, die in die eigene Bearbeitung eingeflossen sind. Dass die armenische Musik von Stücken Bachs unterbrochen wird, begründet Tonoyan im Anschluss. Das deutsche Ohr bekomme so Gelegenheit, sich mit gewohnten Klängen von der armenischen Musik zu erholen, weil sie so ungewohnt sei.

Fehlendes Selbstbewusstsein, dass man hinterfragen darf. Denn so, wie die beiden diese in der Tat ungewöhnliche Musik interpretieren, entsteht weder Eintönigkeit noch Anstrengung. Vielmehr klingt es nach einer außergewöhnlichen Erfahrung, die das deutsche Publikum an diesem Abend sammeln darf. Der Applaus bestätigt das. Gern hätte man von den brillanten Musikern auch mehr über Kirche in Armenien erfahren. Aber das muss wohl bis zur nächsten Begegnung warten.

Michael S. Zerban