O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Furios

ALCINA
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
10. November 2024
(Premiere)

 

Theater Bonn, Opernhaus

Opernmanager scheinen an Georg Friedrich Händels Alcina einen Narren gefressen zu haben. Schon die Uraufführung 1735 in Londons Covent Garden soll nach dem Willen des wirtschaftlich angeschlagenen Hallenser Meisters zusammen mit Ariodante eine neue Blütezeit einleiten. Weitgehend gelingt das Vorhaben. In dem vom Theatermanager John Rich im großen Stil errichteten Haus erlebt die Opera seria bis 1737 zwei Dutzend Aufführungen.1952 leitet eine glanzvolle Neubelebung des Werks bei den ersten Händelfestspielen in Halle eine Renaissance der Opern des großen Sohnes der Stadt ein. Alcina, zuvor 120 Jahre nicht mehr in den Spielplänen der Musiktheater, wird zur festen Größe bei Festivals wie auf Opernbühnen.

Die umjubelte Neuproduktion des fantastischen Stoffes um die legendäre Zauberin an der Oper Bonn, von Jens-Daniel Herzog in Kooperation mit dem Staatstheater Nürnberg in Szene gesetzt, stellt einmal mehr die Bühnentauglichkeit des Werks unter Beweis. Es erlegt weder der Regie noch der musikalischen Leitung allzu enge Fesseln auf. Der schon in der Kirke-Episode der Odyssee von Homer nachweisbare Plot, der auf Ludovico Ariostos Orlando furioso fußt, ist nun einmal als Opernsujet bestens geeignet. Zumindest so lange Frauen Lust haben, Männer mit den Mitteln der Zauberei in ihren Bann zu ziehen. Zumindest so lange Männer nach bezaubernden Frauen verlangen, ohne sich der Risiken von Magie zu vergewissern. Die ewig junge uralte Geschichte um Liebe, Leidenschaft, Enttäuschung und Entsagung wird in Bonn in einer Weise erzählt, die zwar nicht immer plausibel erscheint, aber das Publikum über den langen Bogen von drei Stunden prächtig unterhält.

Alcina hat in ihrem Zaubergarten eine ganze Phalanx von früheren Liebhabern in Schweine, allerlei anderes Getier und Pflanzen verwandelt. Aktueller Kandidat, den die Zauberin für sich gewinnen will, ist Ruggiero. Der Ritter, eigentlich mit Bradamante verlobt, verfällt ebenfalls der Macht Alcinas. Durch drei impulsive Opernakte hindurch kämpft Ruggiero um seine Bestimmung als Mann und Mensch, was ihm sage und schreibe allein sieben Solo-Arien abverlangt. Zum guten Ende versinkt das Zauberreich. Die Rückverwandlung der Gefangenen gelingt. Dopo tante amare pene già proviam com forto all‘alma, resümiert der Chor. Alles wieder gut? Nicht ganz, die Zauberin, um Sehnsüchte und Träume gebracht, bleibt allein zurück. Am Boden dessen, was man Wirklichkeit nennt.

Herzog nimmt sich des Stücks von zwei Seiten an. Einmal verlegt er die mythische Insel in die Zwanziger Jahre. Deren sogenannte goldene Dimension staffieren Bühnenbildner Mathis Neidhardt und Kostümbildnerin Sibylle Gädeke mit hellwarmen Raumtönen, einer Freitreppe und weiteren mobilen Elementen, darunter einer Dusche hinter Glas, sowie nobler Abendgarderobe aus. Doch Alcinas Zauberreich kennt auch eine Klassengesellschaft. Bradamante und Melisso geraten in dunkler Reisekostümierung bei strömendem Regen vor die Tore, die sich zu beiden Seiten hin wie die Portale von Schlössern öffnen lassen. Im Schlussbild drängen sich die Reisenden mit der Entourage des Chores wieder bei Regen unter einen Schirm. Das strahlende Licht, für das Max Karbe zuvor gesorgt hat, ist verloschen. Wie die ganze Reisegesellschaft auf ihrem Weg ins Ungewisse, vielleicht, wer weiß, als Migranten zu uns.

Zum anderen zieht Herzog den Tanz als illustrierende Unterstützung von Rezitativen und eines Teils der Arien ein. Ein probates Stilmittel der Inszenierungskunst in der Barockoper, aber keineswegs originell. Julia Burbach versteht im Frühjahr ihre komplette Alcina-Regie an der Oper Wuppertal als psychologische Choreografie. Zur Zeit Händels agieren in den Hoftheatern Tänzer nicht nur während der obligaten Balletteinlagen. Die Aristokratie fördert Tänzer, weil sie auch während der Arien auftreten und so ein zusätzlicher künstlerischer code of communication entsteht. Händel, der im London der konkurrierenden Opernhäuser ständig Attraktionen hinterherjagt, kann für seine Alcina sogar aus dem Vollen schöpfen.

John Rich hat die populäre Tänzerin Marie Sallé und ihre Compagnie für eine Spielzeit an sein Haus engagiert. Ein Angebot, das der Komponist nur zu dankbar aufgreift und im Design seiner Oper berücksichtigt. Den sechs Tänzern in der von Ramses Sigl entwickelten Bonner Choreografie gelingt es phasenweise, den Zauber Alcinas um den Zauber der Körperlichkeit zu erweitern, was aber bisweilen störend querliegt zur Ausbildung der affetti in den Gesangsnummern.

Joan Sutherland ist 1957 mit einer superben Gestaltung der Titelrolle eine Wegbereiterin des zweiten Durchbruchs von Händels Dramma per musica. Dass das Theater Bonn nun mit der Sopranistin Marie Heeschen die fordernde Partie der Alcina aus dem Ensemble besetzen kann, ist mehr als bemerkenswert. Heeschens Tessitura ist zwar für das weite Spektrum der Partie nicht ideal disponiert, was insbesondere in den disruptiven Kletterpartien der Koloraturen bemerkbar ist. Nach anfänglicher Zurückhaltung gelingt ihr gleichwohl von der Liebesbeschwörung Di‘, cor mio, quanto t‘amai über die von Verzweiflung getragene Arie Ombre pallide bis zur von Tränen erstickten Schlussarie Mi restano le lagrime eine vorzügliche Leistung. Hierzu trägt auch das berührende Spiel der Heeschen bei.

In der Rolle ihrer Rivalin Bradamante überzeugt Anna Alàs i Jové mit flinken Läufen und famosen Kaskaden ihres wuchtigen Mezzos. Zu den Pluspunkten der Besetzung zählt auch Gloria Rehm als Morgana, die Händel mit einem halben Dutzend prächtiger Arien verwöhnt, was die Sopranistin mit gleicher Münze mit dekorativer Pracht heimzahlt. Als Ruggiero, die Sphinx zwischen Alcina und Bradamante, schreibt Charlotte Quadt ungewollt eine Episode der Bonner Theatergeschichte. Die weist eine beglückende und eine andere Seite auf.

Am Morgen der Aufführung meldet sich die Mezzosopranistin physisch angeschlagen, nicht aber stimmlich indisponiert. Für alle Fälle wird in Wien, wie Intendant Bernhard Helmich ausführlich vor dem Vorhang berichtet, ein Countertenor ausfindig gemacht, der die Rolle beherrscht und nach Überwindung diverser Widerstände am Flughafen via Frankfurt per Flug und ICE nach Bonn geholt wird, wo er während des ersten Aufzugs eintrifft. Das Publikum erblickt ihn im zweiten Teil der Aufführung seitlich positioniert, jederzeit einsatzbereit mit der Partitur in den Händen. Doch zu dem Einsatz kommt es bis zum Finale nicht.

Quadt schafft es mit aufopferndem Spiel und geschmeidigem Mezzo bis zum finalen Terzett Non è amor, nè gelosia, dem einzigen Ensemblestück der Oper. Eine bravouröse Leistung, die den verdienten Sonderapplaus des Publikums findet. Und einen potenziellen Einspringer unbeschäftigt lässt, der sich einen Tag lang in den Dienst der Kunst und der Kollegialität unter Sängern stellt. In den weiteren Rollen runden die koloratursichere Nicole Wacker als Oberto, Stefan Sbonnik als Oronte, der mit berührender vokaler Innigkeit Morgana liebt, und Pavel Kudinov als Melisso mit profundem Bass den großartigen Gesamteindruck des Sängerensembles ab.

Dorothee Oberlinger, Spezialistin der Alten Musik, als Virtuosin auf der Blockflöte und Gründerin des Ensembles 1700 gefragt, versteht es am Pult des Beethoven-Orchesters Bonn, energisch wie einfühlsam, Händels Musikarchitektur in ihren pompösen wie eleganten Fassaden mitreißend zum Ausdruck aufzubauen und auszubalancieren. Das BOB – ein Positivum – ist ihr bereits aus einem Konzert mit der zweiten Sinfonie Beethovens in diesem Februar vertraut. Wie sie die zum Teil solistisch agierenden Instrumente der Basslinie – Cello, Fagott, Laute, Kontrabass – variantenreich als gut gelaunte Partner der Sänger einsetzt, verrät eine intensive Vorbereitung sowie eine mindestens ebenso intensive Probenarbeit. Dabei ist Olga Watts am Cembalo eine sichere Begleiterin. Der von André Kellinghaus einstudierte Chor hat zwar nur zwei Auftritte, nutzt sie jedoch famos und trägt indirekt noch zur Versöhnung der Protagonisten bei.

Das Publikum löst sich aus dem Bann der Zauberwelt, in die es sich über mehr als drei Stunden höchst freiwillig hat verfangen lassen, mit einem langanhaltenden, herzlichen bis frenetischen Beifall. Der gilt allen Mitwirkenden, auch dem Team um Herzog und nicht zuletzt den Tänzern und der Statisterie.

Die Termine von Aufführungen der Bonner Alcina reichen bis in den Januar. Für den einen oder anderen vielleicht eine willkommene Abwechslung vom Winter-Wahlkampf um die Macht im künftigen Bundestag.

Ralf Siepmann