O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Claire Huangci - Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Das Ereignis Grigory Sokolov

KLAVIER-FESTIVAL RUHR 2021
(Diverse Komponisten)

Besuche am
5., 6. und 8. Juli 2021
(Einmalige Aufführungen)

 

Klavier-Festival Ruhr in Bochum, Wuppertal, Essen

Mit drei Konzerten denkbar unterschiedlichen Zuschnitts, leider auch unterschiedlicher Qualität, startet das Klavier-Festival Ruhr in den Juli. Vier Konzerte stehen noch auf dem Programm, bevor weitere im Frühjahr ausgefallene Abende im September nachgeholt werden.

Bochum. „Wie auf einer Intensivstation“ komme er sich angesichts der „grundlos“ schütter besetzten Konzertsäle vor, beklagte der Bariton Matthias Goerne vor einigen Monaten in einem Interview. Ein Gefühl, das er auch bei seinem Liederabend im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr im entsprechend luftig gefüllten Anneliese-Brost-Musikforum nicht unterdrücken kann. Von Freude über die, wenn auch bescheidenden Lockerungen oder den nahenden Sommer ist seinem 75-minütigen Auftritt mit dem koreanischen Senkrechtstarter Seong-Jin Cho am Flügel nichts anzuhören.

Es ist ein Strauß dunkler, um Tod, Unterwelt und verlorenes Liebesglück kreisender Lieder von Franz Schubert, die Goerne mit seiner markanten Stimme dem Publikum überreicht. Eine Klage reiht sich an die andere. Vom Wanderer und Wehmut über Der Jüngling und der Tod und Heimweh bis zu den Harfner-Liedern aus Wilhelm Meister und der alles andere als selig stimmenden Sommernacht. Ein Programm ohne greifbare inhaltliche Kontraste, das in dieser Zusammenstellung eine besonders detailgenaue, filigrane Interpretation der einzelnen Lieder erfordert, um wenigstens die feinen Unterschiede andeuten zu können.

Doch genau daran fehlt es dem insgesamt zu einförmigen Vortrag. Die kraftvolle, substanzreiche Stimme Goernes reicht ebenso wenig wie die bisweilen energisch zupackende, aber sich meist unauffällig zurückhaltende Unterstützung durch den Klavierpartner aus, um ein solches Programm lebendig werden zu lassen. Dabei finden sich doch unter den fast 600 Liedern Schuberts auch ernste Gesänge, die wenigstens einen Hoffnungsschimmer erkennen lassen.

Doch darauf muss das dankbar applaudierende Publikum selbst im Zugabenteil verzichten. Zugaben gibt es nämlich nicht.

Grigory Sokolov – Foto © Peter Wieler

Wuppertal. Dass Maria João Pires in Portugal festsitzt und ihren Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr absagen muss, ist zwar schade. Aber Intendant Franz-Xaver Ohnesorg ist so gut vernetzt, dass sich schnell ein Ersatz finden lässt. Interessant, dass für die reife abgeklärte Portugiesin mit Claire Huangci eine Künstlerin der jungen Generation den Platz in der Historischen Stadthalle von Wuppertal einnimmt. Die medial erfolgreich geführte Karriere der Amerikanerin gründet auf exzellente manuelle Fähigkeiten, mit denen sie klanglich und dynamisch nahezu alles aus einem Flügel holen kann, was das Herz begehrt. Sie kann eruptiv in die Klaviatur greifen und die Tasten im nächsten Moment wie ein Kätzchen streicheln. Ihre differenzierte Anschlagskultur verspricht ein großes Potenzial.

Gute Voraussetzungen für ein Programm mit drei ebenso gewichtigen wie bekannten Zugstücken des Repertoires. Und zwar mit Busonis Klavierversion der Toccata in d-Moll, Beethovens Waldstein-Sonate und Schuberts entrückter Sonate in B-Dur.

Rein manuell bringt Huangci nahezu alles mit. Allerdings gelingt es ihr nicht, zu stilistisch geschlossenen Interpretationen zu finden. Bereits in Bachs Toccata reizt sie in Sachen Tempo und Dynamik effektvoll, letztlich aber manieriert und konzeptlos extreme Kontraste aus, wodurch das Werk formal in zusammenhanglose Phrasen zerfällt. Mag man ihr bei der ohnehin improvisatorisch gefärbten Toccata noch einen größeren Interpretationsfreiraum zugestehen, wirkt sich Huangcis Manier auf größer dimensionierte Sonaten teilweise verheerend aus. Das betrifft sowohl die auf Tempo getrimmte Waldstein-Sonate Beethovens als auch die einerseits emotional überladende, andererseits, vor allem in den letzten beiden Sätzen, fahrig heruntergespielte Schubert-Sonate.

Dass sie ein Klavier zum Singen bringen kann, beweist sie mit einer etwas plüschig, aber immerhin sensiblen Darstellung von Debussys Claire de lune im Zugabenteil. Für die großen Repertoirestücke klaffen bei ihr spieltechnische Artistik und gestalterische Verständnislücken noch zu weit auseinander.

Essen. Polonaisen von Chopin und Préludes von Rachmaninow: Das klingt nach einem virtuosen Zirkusauftritt. Allerdings nicht, wenn sich Grigory Sokolov an den penibel präparierten Steinway D-274 setzt. Mit seinem 23. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr in der „ausverkauften“ Essener Philharmonie bringt er jenen Glanz in die Sommerrunde des Festivals, den man in den letzten Tagen nicht in jedem Konzert der Serie erleben durfte.

Natürlich begnügt sich Sokolov nicht mit oberflächlich funkelndem Glanz. Mit innerer Glut und einer nahezu priesterlichen Ergebenheit zelebriert er sein neuestes, nur auf den ersten Blick effektbetontes Programm. Mit Ausnahme der populären Polonaise in As-Dur op. 53, bei der er den sportiven Tastenmagier ab und zu ein wenig von der Leine lässt, wählt er drei Moll-gefärbte Polonaisen Chopins aus, die er als tiefgründige, introvertierte Charakterstücke interpretiert. Den ohnehin von Chopin nur spärlich angedeuteten tänzerischen Duktus der Werke op. 22 und 44 spielt Sokolov zwar dezent aus, versucht aber nicht, ihn effektvoll zu verstärken. Und das mit einer ihm eigenen Konsequenz, die verstörend wirken mag, für die ihn das Publikum des Festivals jedoch liebt.

Und so verblassen selbst mit Superlativen überhäufte Beschreibungsversuche vor der magischen Wirkung seines Spiels. In sich gekehrt, scheint er das Publikum kaum wahrzunehmen. Und dennoch ist in jedem Takt zu spüren, dass sich eine Beziehung zum Publikum einstellt, der sich niemand entziehen kann. Kein Wunder, dass Sokolov Studio-Aufnahmen ablehnt und, wie es sich für eine gesunde Symbiose gehört, das Publikum braucht wie die Luft zum Atmen.

Nach einer kurzen Pause, in der der Flügel noch einmal nachjustiert wird, entfaltet Sokolov mit den zehn Préludes op. 23 von Sergej Rachmaninow einen Kosmos pianistischer Wunder, was Sensibilität, filigrane Feinarbeit, Stilsicherheit und pianistische Perfektion angeht. Die Klangkultur Sokolovs, basierend auf einer schier grenzenlos fein differenzierten Anschlagspalette, bringt den tatsächlichen Wert der mitunter unterschätzten Miniaturen Rachmaninows eindrucksvoll zur Geltung. Und zwar ohne salonhaften Plüsch und tastendonnernden Pomp. Wie die Polonaisen Chopins nimmt Sokolov Rachmaninows Etüden nicht nur als ausdrucksstarke Charakterstücke ernst. Er weiß ihre Bedeutung auch pianistisch umzusetzen.

Wie immer lässt sich Sokolov angesichts der stehenden Ovationen nicht lange um einen umfangreichen Zugabenteil bitten. Ohne jede Ermüdungserscheinung wirkt er nach seinem fast zweieinhalbstündigen, pausenlosen Auftritt der Superlative so frisch wie vor dem ersten Ton.

Pedro Obiera