O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Monströs und tief empfindsam

UKRAINIAN DIARY
(Vadim Neselovskyi)

Besuch am
22. Oktober 2023
(Uraufführung)

 

Take-5-Festival, Kunstmuseum Bochum

Zum zehnten Mal findet vom 17. September bis zum 27. Dezember das Take-5-Festival im Rahmen von Jazz am Hellweg statt, nach eigenen Angaben das größte Jazzfestival Westfalens. An 30 Spielstätten sind in dieser Zeit 50 Konzerte zu erleben, allein zehn Bigbands der Region präsentieren sich. In das Kunstmuseum Bochum ist jetzt Vadim Neselovkyi und das Mryia-Ensemble mit einer Uraufführung eingeladen.

Neselovskyis Ukrainian Diary ist wie ein Aufschrei gegen den Krieg – zugleich besinnt sich der aus Odessa stammende, heute hauptsächlich in den USA lebende Pianist und Komponist auf die Prägung durch die moderne Kammermusik im 20. Jahrhundert. Herausgekommen ist ein Meisterwerk für Klavier und drei Streicherstimmen, dessen verstörende Wucht und ebenso eine tief berührende Empathie überwältigt.

Mariia Mohylevska – Foto © O-Ton

Bei Neselovskyi wirkte ein produktiver Transformationsprozess: Am Anfang, also am 24. Februar 2022 herrschte erst mal Schockstarre, die bei dem erfahrenen Musiker zum ersten Mal im Leben das Klavierspiel, das für ihn sonst die Luft zum Atmen darstellt, zum Verstummen brachte. Aber er entwand sich der schöpferischen Blockade und begann, ein musikalisches „Tagebuch“ ohne Worte zu schreiben. Über 200 Partiturseiten kamen dabei heraus.

Im Kunstmuseum, das zu den ausgesuchten Spielstätten beim Take-5-Festival gehört, stellt er der Aufführung eine bewegende Ansprache voran. Er, der nach dem Umzug seiner Familie nach Dortmund im Ruhrgebiet aufwuchs, mittlerweile weltweit gefragt ist und schon mit Gary Burton und John Zorn kollaborierte, hat über viele lange Jahre einen starken emotionalen Zusammenhalt durch das Take-5-Festival erfahren, dessen künstlerischer Leiter Uli Bär wie eine Art Mentor für ihn war. Dann beschreibt Vadim Neselovskyi, wie sich die letzten anderthalb Jahre angefühlt haben. Gerade die kleinen Sätze erschüttern: Dass in der Ukraine Krieg ist, sieht man hierzulande ja nur in den Nachrichten. In der Ukraine ist es – zum Beispiel – an der überall wachsenden Zahl neuer Gräber auf den meisten Friedhöfen im Alltagsbild offensichtlich.

Lyrisch, ruhig und elegisch lässt das Klavierquartett auf der Bühne die Suite beginnen. Neselovskyi räumt den Streichern viel Raum zur eigenen Gestaltung ein. Eine fragile, zerbrechliche Stimmung in einer zarten Introduktion suggeriert Verletzlichkeit. Dann bricht das Inferno los, der nicht für möglich gehaltene russische Angriff. Perkussive Cluster des Klaviers bringen alles zum Einsturz, grelle Dissonanzen der hohen Streicher blitzen auf – und die motorisch pochenden Klanggewitter des Cellos fahren durch alle Nervenbahnen. Von jetzt ab loten die Sätze der Suite alle individuellen und kollektiven Empfindungsebenen einer aus den Fugen geratenen Wirklichkeit schonungslos aus. Wie eine zarte Stimme erhebt sich aus einer Trümmerlandschaft die Viola mit einer Volkslied-Melodie, die zerbrechlich, ja, in lautmalerischer Verdichtung bewusst „unsauber“ intoniert daherkommt. Das Monströse und das tief Empfindsame, Menschliche liegen oft dicht beieinander, dabei dominiert eine faszinierende Flexibilität im Einsatz stilistischer Genres und Mittel.

Viktor Ivanov und Vadim Neselovskyi – Foto © O-Ton

Etwa, wenn sich eine merkwürdig ironisch-gebrochene Tango-Melodie aus lautmalerischen Trümmerlandschaften erhebt, wenn Versatzstücke aus ukrainischen und auch russischen Volksliedmelodien raffiniert gebrochen werden. Treibend motorische Parts suggerieren den eigenen, heroischen Überlebenswillen, versinnbildlichen aber auch die Normalität des Verdrängens und Konsumierens. Ein makabrer Choral bildet die gespenstische Wirklichkeit von Mariupol ab. Neselovskyi spielt sich in Rage, traktiert die Tasten oft perkussiv, lässt wild zupackende Improvisationen vom Stapel und sich von der eigenen Emotion sichtlich mitreißen. Was auch das  Spiellevel von Geiger Viktor Ivanov, Bratschistin Kateryna Suprun und Mariia Mohylevska am Cello in ungeahnte Höhen treibt, die trotz der komplexen kompositorischen Strenge der Stücke viel Raum zum puren Improvisieren mit Klang auskosten. Vor allem Mohylevska hat viel rockigen Groove im Blut dabei. Noch einmal bäumt sich der ganze expressive Apparat im vorletzten Satz auf – bevor in einer elegischen Melodie die Humanität, die Hoffnung auf bessere Zeiten das letzte Wort hat.

Nein, das vorletzte: Das letzte hatte das Publikum, das nach einem Moment der ergriffenen Stille über viele Minuten lang stehend applaudiert.

In seiner – deutlich jazz-affineren – Odessa-Suite wirkt Neselovskyi als Botschafter für den kulturellen Reichtum seines Heimatlandes. Mit seinem Ukrainian Diary verlagert sich der Fokus mitten ins Herz der europäischen modernen Kammermusik hinein, denn auch viele Spurenelemente von Ligeti, Schnittke oder Kurtag springen ins Ohr. Im Gespräch nach dem Konzert erzählt er, dass er all das in seiner Jugend gründlich studiert hat, bevor ihn die Liebe zum Jazz überkam. Den Schaffensrausch, der ihn bei der Komposition des Ukrainian Diary überkam, empfindet er selbst als überraschende Rückbesinnung auf seine zeitlosen Wurzeln. „Ich wundere mich selber, welche Fenster hier wieder aufgegangen sind“, sagt er. Und ja – trotz der Tragik des Anlasses haben die vier Beteiligten mächtig Spaß an ihrer kraftvollen, genreübergreifenden und im wahrsten Sinne des Wortes „neuen“ Musik. Das Stück soll nun an vielen weiteren Orten in Europa und den USA aufgeführt werden – und dabei weiter wachsen. Am 26. November kommt das Ukrainian Diary nach Nordrhein-Westfalen zurück, wenn Vadim Neselovskyi und das Mryia-Ensemble im Dortmunder Domicil das Abschlusskonzert der Dortmunder Jazztage spielen.

Stefan Pieper