O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ensemble Ruhr - Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Vergessene Befindlichkeit

SEHNSUCHT UND AHNUNG
(Franz Schubert, Gustav Mahler)

Besuch am
9. April 2021
(Work in Progress)

 

Ensemble Ruhr, Jahrhunderthalle Bochum

Auch nach einem Jahr ist das Entsetzen nicht gewichen. Abertausende Künstler und Kunstschaffende haben ihre Existenz verloren oder kämpfen ohne große Erfolgsaussichten darum, wobei die Perspektiven sich täglich verschlechtern. Schuld war kein Virus, sondern es waren panikerfüllte politische Entscheidungen ohne Augenmaß, die bis heute kein Ende finden. Anstatt auf Treu und Glauben Entschädigungszahlungen zu leisten, wurden Hilfspakete „geschnürt“, die an der Realität vorbeigingen und heute dazu führen, dass Künstler auch noch das Finanzamt oder schlimmer noch die Staatsanwaltschaft an den Hacken haben. Dabei ist die finanzielle Seite geradezu belanglos gegenüber dem, was sich in der Befindlichkeit – freischaffender – Künstler abspielt. Schockstarre, innere Leere, Ungläubigkeit sind nur wenige Vokabeln, die man im letzten Jahr von Künstlern gehört hat. Und schnell wird klar, dass die finanzielle Seite sicher besorgniserregend ist, bislang sagen die veröffentlichten Zahlen, dass voraussichtlich rund ein Drittel der Künstler den Beruf verlassen wird, aber was viel schlimmer ist: Das Urvertrauen ist zerstört, viele Künstler haben irrwitzige psychische Berg- und Talfahrten hinter sich.

Mit diesem Aspekt befasst sich in seiner neuesten Arbeit das Ensemble Ruhr, das sich nach eigenen Angaben als Kammerorchester des Ruhrgebiets sieht. Sehnsucht und Ahnung nennen Anna Betzl-Reitmeier und Antje Weltzer-Pauls, die beiden Künstlerischen Leiterinnen des Ensembles, ihre neueste Arbeit. Das Publikum soll wissen, wie es den Künstlern in der Zeit des Auftritts- und Berufsverbots ergangen ist und diese Erfahrungen mit den eigenen abgleichen. Dass es da Gemeinsamkeiten gibt, werden die Besucher im Laufe der Aufführung geradezu zwangsläufig mitbekommen.

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Nein, es gibt keine große Premiere mit anschließender Feier – verboten. Aber es gibt so etwas wie eine Generalprobe, die dann doch keine ist. Einigen wir uns also auf den in der Tanzwelt geläufigen Begriff des Work in Progress, einer Arbeit, die sich noch in der Weiterentwicklung befindet, aber trotzdem gezeigt wird, weil schon der Zwischenstand vielversprechend ist und zur Diskussion führen soll.

Ein Internet-Auftritt verbietet sich, weil das Konzept die persönliche Erfahrung der Besucher vor Ort voraussetzt. Denn es geht um Nähe. Und so kann die Aufführung auch nicht ohne Besucher stattfinden. Dreizehn Menschen sind eingeladen, um den zweiten Durchlauf von Sehnsucht und Ahnung zu erleben. In der Halle eins der Jahrhunderthalle Bochum hat Norbert van Ackeren die Bühne aufgebaut. Finanziell unmöglich für das Ensemble zu leisten, aber die Jahrhunderthalle hat sich angesichts der Corona-Krise großzügig gezeigt und den Raum zur Verfügung gestellt. Und so ist in der riesigen Halle eine große schwarze Torte aufgebaut, die sich als Bühne entpuppen wird, einfallsreich ausgestattet von Kristina Schmidt. Betzl-Reitmeier begrüßt die Gäste vor der Halle, ehe Schauspieler Klaus Brantzen sie mikrofonverstärkt darum bittet, auf den Stühlen Platz zu nehmen, die in gehörigem Abstand mit dem Rücken zur Bühne aufgebaut sind. Den Besuchern bleibt der Blick auf die helle Glasfront der Halle. Eine merkwürdige Situation. Im Hintergrund erklingt Der Tod und das Mädchen von Franz Schubert in der Streichorchesterfassung von Gustav Mahler. Allegro und Andante con moto, also die ersten beiden Sätze, erklingen in wunderbarer Akustik. Die Absicht wird verstanden: Das Publikum kann natürlich die Musik weiterhin hören – auf Tonträgern, auf dem Handy, im Internet, neuerdings ja auch gern wieder auf Vinyl – aber das Orchester fehlt. Die Verunsicherung ist groß, und so entfällt kurzerhand der Applaus, als Brantzen die Gäste mit weiteren Anweisungen versorgt.

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In Dreiergruppen betreten die Gäste nun die einzelnen „Tortenabschnitte“ der kreisrunden Bühne. Selbstverständlich mit genau abgemessenen Markierungen; schließlich geht es nicht darum, die Gesundheit unnötig zu gefährden, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass es mehr Aspekte in dieser Zeit als nur die staatliche Gesundheitskontrolle gibt. Über die derzeitigen Lebensumstände der heute anwesenden Musiker erfahren die Gäste nichts. Katrin Sedlbauer hat die Regie übernommen und legt Wert darauf, kein Mitleid oder persönliche Betroffenheit zu erzeugen. Sondern versucht vielmehr, die Gefühle der Besucher in abstrahierter Form anzusprechen. Und das gelingt ihr gut – vor allem im Zusammenspiel mit den Kostümen, die Schmidt sehr reduziert entworfen hat. In der „Wartehalle“ bekommt der Besucher überhaupt keine Musiker zu sehen, sondern kann sich ganz auf die Musik konzentrieren, die im Kreisrund förmlich aufsplittert. Da sind Fragmente und Improvisationen über die ersten beiden Sätze zu hören, einige kleinere Ausschnitte aus diesen Sätzen und schließlich – aber das soll der Besucher selbst erleben. In der Enge der folgenden Räume, die gerade so die erforderliche Distanz erlauben, erklingen die Musiken in immer neuer Akustik und tritt in den Hintergrund. In den Vordergrund treten die Musikerpersönlichkeiten. Gleich im folgenden Abschnitt „Verlust“ berühren Antje Weltzer-Pauls mit ihrer Geige, die sie nur zögerlich überhaupt noch auspackt, und Eduardo Rodriguez am Kontrabass, der das Geschehen nicht überleben wird, mit dem Entsetzen der ersten Schockphase. Geiger Stefan Hempel wirkt hier von der Mitte der Torte aus in die Zelle hinein, wie er als Konzertmeister mit allen Abschnitten in Kontakt bleibt, ohne ernsthaft etwas bewirken zu können. Rücken an Rücken stehen Weltzer-Pauls und Hempel schließlich – ein bisschen Solidarität, obwohl jeder schon seins macht, eine letzte Berührung, als sie noch möglich scheint. Den Ausflug in die Natur, der so manchem inzwischen längst über ist, kann man im Abschnitt „Hoffnung“ erleben, wo Moritz Kolb barfuß sein Cello in so etwas wie einem Teich platziert. Ein ganz starker Raum ist Schmidt mit „Erstarrung“ gelungen. Dass hier die Distanz gezeigt werden soll, gerät ganz schnell in den Hintergrund. Zu faszinierend ist das Spiegelspiel des Quartetts, das mit Cellistin Anna Betzl-Reitmeier, Hans-Henning Ernst und Laura Kania an der Geige und Max Schmiz mit seiner Bratsche vielfältig erscheint und eher an gespaltene Persönlichkeiten als an Entfernung erinnert. Im „Wohnzimmer“ möchte man fast aufatmen. Das biedermeierlich eingerichtete Zimmer teilen sich die Geigerinnen Carmen Molina und Konstanze Glatter sowie die Bratschistin Miriam Barth in Kostümen, die aus eben dieser Zeit stammen könnten. Dass es hier um Geborgenheit und Vertrauen gehen soll, die auch Brantzen hier immer wieder sucht, erscheint bizarr und wirkt damit ebenfalls sehr beeindruckend. Im „Keller“ endlich ist Platz für Wut und Kampf. Letzterer überzeugend ausgefochten von Geigerin Lena Sandoz und Bratschistin Erin Kirby, die sich wie in einem Käfig umkreisen.

Noch einmal: nein. Nicht Wehklagen und Selbstmitleid, kein Betroffenheitstheater hat Sedlbauer hier auf die Bühne gebracht. Aber es ist ihr gelungen, den Besuchern an die Seele zu greifen. Weil sie das Publikum zwischen Atonalität und Romantik herumtreibt, ihm einen Einblick ohne Eingriff erlaubt und auch das eigene Erleben noch einmal vor Augen führt. Nein, auch nach dieser Aufführung wissen wir nicht, wie unendlich viele Dramen – existenzbedrohende Dramen – sich in Künstlerfamilien abgespielt haben. Wie Weltbilder zusammengebrochen sind, während Kinder weiter zu versorgen sind, die sich nicht im Reichtum aalen, aber in bürgerlichem Umfeld aufgewachsen sind, während sie seit mehr als einem Jahr jede soziale Sicherheit verloren haben. Aber nach anderthalb Stunden hat das Publikum verstanden, dass es nicht reicht, sich um die körperliche Gesundheit zu kümmern, sondern auch die psychische Befindlichkeit endlich Berücksichtigung finden muss. Mit allen Konsequenzen – für Musiker wie Publikum.

Im persönlichen Gespräch erklärt Betzl-Reitmeier, dass das Stück, das im November in Essen uraufgeführt werden soll, bis dahin durchaus noch Anpassungen an die aktuelle Situation erfahren solle. Da möchte man ihr allerdings ein kräftiges Nein entgegenrufen. Schließlich hat das Ensemble Ruhr hier ein ergreifendes Stück Gegenwart entwickelt, dass auch im November noch Gültigkeit haben wird – hoffentlich dann nur noch mit Erinnerungswert.

Michael S. Zerban